Der Gast
aus Kiew
© by Jacques Lupus
In der Schulzeit war das Fach " Russisch " Pflicht. Als ordentlicher
DDR- Kader war das Erlernenen dieser Sprache unumgänglich, und es
gab keine Möglichkeit dem zu entfliehen. Ich gehörte nicht zu diesen Schülern. Nicht unbedingt ein Aß
was Sprachen angeht, hatte ich doch diesen und jenen kleinen Erfolg zu
verzeichnen. |
![]() |
Meine gute Frau Marlis arbeitete in einem kleinen Schuhgeschäft in Apolda
und hatte so ihre täglichen Erlebnisse. Oft erzählte sie mir am Abend
dies und jenes. Es sind lustige und traurigen Geschichten dabei. Manchmal war
es auch schon langweilig. Geduldig hörte ich ihr zu, lachte und weine mit
ihr, gab ihr Recht oder nicht und freute mich unseres glücklichen Lebens,
das wir uns gemeinsam so angenehm wie möglich gestalteten.
Es war unser Feierabend, und beide gaben wir uns große Mühe, diesen
auch so angenehm wie möglich zu gestalten.
Eines Tages wartete sie mit einer außergewöhnlichen Geschichte auf!
" Stell Dir mal vor! " begann sie mit ihren Ausführungen, "
heute war eine Kundin im Geschäft und hatte einen kleinen Jungen aus der
Ukraine bei sich. " Es war ein absolut armes Kind ! "
" Die Schuhe, die der kleine Junge anhatte, waren das Wegschmeißen
nicht wert! "
Ich erfuhr von ihr, daß in der Nähe von Apolda das Dorf Mattstedt
liegt und dort der Verein
" Kinder aus Tschernobyl " jährlich Kinder aus der Ukraine zum
dreiwöchigen Urlaubsaufenthalt einlud. Unser Entschluß auch ein solches
Tschernobylkind zu uns nach Hause einzuladen stand fest.
Der nächste Durchgang stand vor der Tür, und unser Vorhaben war beschlossen
:
Wir hatten einen kleinen Gast aus Kiew bei uns zu Hause !
"Am nächsten Freitag ist es so weit! " sagt die Frau , und wir
saßen zusammen in der Aula einer Hauptschule in Mattstedt und konnte unseren
kleinen Gast aus der Ukraine begrüßen.
Es war ein ca. zehn Jahre alter Junge aus Kiew . Am 04. September 1997 würde
er seinen
Geburtstag feiern; unser Gast Jaroslav Panasenko! Er war das fünfte Kind
einer ukrainischen Familie; sein Vater hatte zehn Monate vor seiner Geburt die
Tschernobylkatastrophe miterlebt.
Es war im Mai 1997. Das Wetter war typisch angenehm sonnig. Im Maisenkasten
wuchs die erste Brut heran und alles war ganz einfach schön.
Für Jaroslav war es zwar am interessantesten seine Zeit mit Computerspielen
zu verbringen, aber in einem Schreiben, das wir vom Vorsitzenden des Vereines
überreicht bekommen hatten, stand ausdrücklich, daß die Kinder
unter einer Immunschwäche litten und ein Aufenthalt an der frischen Luft
unbedingt zwingend nötig war zur Abhärtung und Prophylaxe!
Wir hielten uns viel im Garten auf, alle verfügbaren Fahrräder wurden
aktiviert, und unsere Ausflüge in die Umgebung nahmen richtig Form an.
Manchmal war es schon absoluter Streß mit Jaroslav.
Schach spielen konnte er auch, aber mein altes Fahrrad wurde zu seinem Lieblingsspielzeug.
Erst einmal in der Natur versuchte ich meine Sprachkenntnisse aufzufrischen
: " Wie heiß das, wie heiß jenes in Russisch? " - Tepjer
muie jedjem belosibek ili igraem wmestje ! "
Sprachpassagen, die in Deutsch schwer darzustellen sind ! Auf gut Deutsch heißt
das übersetzt : " Jetzt fahren wir Fahrrad oder spielen zusammen !
"
Jaroslav lachte hell, wenn ich in meinem starken Akzentrussisch zu sprechen
versuchte und berichtigte mich auch sofort sprachlich und auch grammatikalisch
! Das nahm ich ihm nicht übel, obwohl ich ihm schon gern Widerpart gehalten
hätte. Immerhin sprach er kein Wort Deutsch.
Es war ein sehr gut erzogenes Kind, höflich und hilfsbereit, sauber und
anständig.
Nachdem ich ihm ein Paar Turnschuhe der Marke Adidas und einen Walkman der Marke
Panasonic geschenkt hatte , war ich sein bester Freund. Ich konnte keinen Schritt
mehr tun, ohne daß er nicht in meiner Nähe war.
Bei den Computerspielen wurde er ungeduldig, wenn er den Bogen nicht gleich
heraus fand, und beim Ballspielen konnte ich ihm in seinem Temperament nicht
folgen.
Trotz unserer drei Kinder, die uns der Herrgott geschenkt hatte, trotz
unserer kleinen Enkeltochter Natascha sowie Enkel Adrian, die uns viel
besuchen, hatte ich ihn auch sehr lieb gewonnen. Aber als er uns die Bilder seiner Familie zeigte, wurde uns schon klar,
daß er mit seinem Herzen bei den Seinen in Kiew war! |
![]() |
Die Wochen mit Jaroslav im Sommer 1997 sind aber für uns unvergeßlich
schön in Erinnerung geblieben. Es war eben diese angenehme Unruhe im ganzen
Haus!
Ein Arbeitskollege in München, der gebürtiger Russe ist, versicherte
mir, daß ich mit meinen Russischkenntnissen nicht als Spion auftreten
könnte, der nicht sofort enttarnt werden würde!
Aber für die Konversation mit unserem kleinen Freund Jaroslav
aus Kiew reichte es immer !
Oft versuche ich einen kleinen Brief zu schreiben mit Grüßen aus
Thüringen.
Jaroslav lernt inzwischen mit Hilfe des Computers die deutsche Sprache.
Und:
Wir sind dicke Freunde geworden.