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Wundersleben im Landkreis
Sömmerda Thüringen |
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( ...Wunnrislebin, vielleicht eine auf die altthüringer Namen Winidrich oder Wunrich bezogene Bezeichnung für einen Besitz eines so genannten Mannes! )
Vor etwa 2500
Jahren wanderten von Norden her Germanen ein.
Unser Gebiet wurde ein Teil vom "Hermundurenland", so genannt nach
dem Namen der germanischen Stammesgruppe,
die im mitteldeutschen Raum dominant war und aus der sich unter Einbeziehung
anderer germanischer Stämme
(Angeln, Warnen) um 400 n.Chr. das Volk der Thüringer herausbildete.
Ein eigenes Königreich errichteten die Thüringer um 450. Unser Gebiet
zählte zum Kernland dieses Reiches.
Viele Sagen ranken sich um das Thüringer Königreich.
Dieses Reich, seit etwa 500 eine Großmacht in Mitteleuropa, erlag 531
den Waffen von Franken und Sachsen.
Der Ort der Entscheidungsschlacht an der Unstrut - "in locus runibergun"
- ist bis heute nicht gefunden worden.
Mit der Zerschlagung des Thüringer Königreiches verlor das Land
seine politische Selbständigkeit.
Die Beauftragten fränkischer Könige und Kaiser herrschten von da
ab über das Gebiet, verwalteten es,
veranlaßten Siedlungen und förderten den Landausbau.
Viele der heutigen Ortschaften im Landkreis sind schon im 8./9. Jh. urkundlich
erfaßt.
Bereits 704 legte der fränkische Herzog Heden II. in einer Schenkungsurkunde
Zeugnis davon ab, daß er
"in curte...Monhore" (Gegend von Großmonra) über umfangreichen
Besitz verfügte.
In dieser frühmittelalterlichen Zeit kam es auch zu Einwanderungen slawischer
Siedler.
Thüringer, Franken und Slawen (Wenden) verschmolzen mehr und mehr miteinander,
kultivierten die Landschaft
und erweiterten ihren Siedlungsraum.
Weltliche und kirchliche Gewalten etablierten sich, bauten ihren Sitz aus
und damit ihre Macht.
Bedeutend waren vor allem die Grafen von Weimar - Orlamünde, die Grafen
von Gleichen und die Beichlinger Grafen.
Über reichen kirchlichen Besitz verfügten schon frühzeitig
das Kloster Fulda, die Reichsabtei Hersfeld und das Erzbistum Mainz.
Nach der Abdankung der thüringischen Fürstenhäuser und der
Bildung des Landes Thüringen 1920 wurden 1922 die bis dahin zum Großherzogtum
Sachsen - Weimar - Eisenach gehörenden Gemeinden des späteren Kreises
Sömmerda in den neugebildeten Kreis Weimar (Thüringen) eingegliedert.
1932 wurden die Landkreise Weißensee und Erfurt zum Landkreis Weißensee
zusammengeschlossen, der erst 1945 zu Thüringen gelangte.
Ab 1950 wird er wieder Kreis Erfurt.
Erst mit der Kreisreform 1952 entsteht der Kreis Sömmerda im damaligen
Verwaltungsbezirk Erfurt,
wie wir ihn bis 1994 kennen (bis auf wenige Aus- und Eingemeindungen von Orten).
1990 gehört der Kreis Sömmerda zum neu gebildeten Land Thüringen.
1994, nach Inkrafttreten des Thüringer Neugliederungsgesetzes, bildet
sich der Landkreis Sömmerda in seiner heute bestehenden Struktur.
Aus den ehemaligen Landkreisen Artern und Erfurt - Land werden Gemeinden in
den neuen Landkreis Sömmerda integriert.
Industrie und Wirtschaft
Die fruchtbaren Ebenen des "Thüringer
Beckens" gehörten bereits in urgeschichtlicher Zeit zum Altsiedelgebiet
der Menschen.
So befindet sich bei Bilzingsleben eine Fundstelle mit Skelettresten des eiszeitlichen
Menschen der damals in Mitteleuropa lebte.
Für die Bronzezeit zeugen verschiedene Grabhügel von der Besiedelung
des Gebietes.
Herausragend sind hier die bei Leubingen gemachten Funde im Leubinger Häuptlingsgrab,
das heute als Rekonstruktion im Museum für Ur- und Frühgeschichte
in Weimar zu sehen ist.
Im 4. Jh. gehörte das Kreisgebiet zum Siedlungsraum der Thüringer,
die nach ihrer Niederlage im Jahr 531 unter fränkischen Einfluß
gerieten.
Mit der Zerschlagung des Thüringer Königreiches verlor das Land
seine politische Selbstständigkeit.
Die beauftragten fränkischen Könige und Kaiser herrschten von da
ab über das Gebiet, verwalteten es
und veranlaßten Siedlungen und förderten den Landausbau. Viele
der heutigen Ortschaften im Landkreis Sömmerda
sind schon im 8. / 9.Jh. urkundlich erwähnt. Einhergehend mit der Eingliederung
Thüringens in das Frankenreich vollzog sich
seit dem 8. Jh. die zunehmende Christianisierung.
Zu den mächtigsten Feudalherren gehörten
die Landgrafen von Thüringen ( Runneburg/ Weißensee )
sowie die Grafen von Beichlingen und Hohenstein.
Letztere wurden Mitte des 14.Jh.durch die Grafen von Schwarzburg abgelöst.
Aber auch die Stadt Erfurt respektive das Kurfürstentum Mainz verfügten
seit 1418 über Territorialbesitz im Kreis.
Nach der wettinischen Teilung von 1485 gehörte der größte
Teil des Territoriums zum albertinischen Sachsen,
das 1547 die Kurwürde erhielt und 1806 Königreich wurde.
Durch den Ausbau der Landeshoheit kam es seit
dem 12.Jh. zur Entstehung der Städte Gebesee Weißensee, Kindelbrück,
Kölleda, Buttstädt,
Rastenberg und Sömmerda, Ackerbürgerstädte, deren wirtschaftliches
Leben stark von der Landwirtschaf geprägt war,
unter anderem von der Schafwirtschaft und dem Anbau von Waid, der Göttergabe
Thüringens.
Von den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges erholte sich die
Region nur langsam.
Einschneidende Veränderungen brachte nach der Französichen Revolution
und dem Napoleonischen Krieg der Wiener Kongress 1815,
in dessen Folge das Gebiet staatlich neu gegliedert wurde. Dabei gelangten
die thüringischen Landesteile des Königreichs Sachsen an Preußen.
Das Gebiet wurde Ende des 19. Jh. durch den Bau der zwei Eisenbahnlinien mit
Knotenpunkt Sömmerda verkehrstechnisch erschlossen.
Zu gleicher Zeit zeichneten sich erste Tendenzen einer Industrialisierung
ab.
Einen Aufbruch erfuhr die
Region mit der Industrialisierung,
wobei sich dabei die Stadt Sömmerda als Zentrum herausbildete.
1817
Gründung der "Fabrik zur Herstellung von Metallwaren auf kaltem
Wege" durch den Schlossermeister
Nicolaus von Dreyse und dem Fabrikanten Kronbiegel
1826/28
Erfindung des Zündnadelgewehres
1841
Gewehrfabrik nimmt ihren Betrieb in Sömmerda auf
1901
Übernahme der Fabrik durch die Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik
(Rheinmetall)
1919
Vertrag von Versaille - Geschäftsgrundlage der Rüstungsproduktion
entfällt, Betrieb beginnt mit
der Produktion von Schreibmaschinen, Kraftfahrzeugteilen
1933
Rheinmetall Sömmerda entwickelt sich von 1200 Beschäftigten auf
3500 innerhalb von
10 Monaten - Grund Rüstungsproduktion
1935
Rheinmetall - größter Thüringer Rüstungsbetrieb mit 10
000 Mann Belegschaft
1937
Internationale Weltausstellung Paris -
erste von Rheinmetall erzeugte Fakturiermaschine erhält Grand Prix
1944
Im Werk waren 4 617 Zwangsarbeiter, darunter 1 294 weibliche Häftlinge
aus dem KZ Buchenwald
3. April 1945
Stillegung des Werkes, Ende der Rüstungsproduktion
Dezember 1945
Schreibmaschinenproduktion wird wieder aufgenommen, 2 448 Beschäftigte
13. Oktober 1945
Beginn der Produktion des "NEUTROWERKES" am Standort des Kölledaer
Militärflugplatzes.
Betrieb hatte Ende 1945 145 Beschäftigte
7. Oktober 1948
NEUTROWERK wird VEB Funkwerk Kölleda
3. Juni 1952
Verselbständigung des VEB Mechanik
Büromaschinenwerk Rheinmetall Sömmerda,
dem späteren
VEB Robotron Büromaschinenwerk Sömmerda
1989
Einleitung der politischen Wende
3.Oktober 1990
Erlangung der Deutschen Einheit.
Das war vor allem mit erheblichen Veränderungen in der Wirtschaft verbunden.
Viele Unternehmen mußten ihre Produktion aufgeben - andere gründeten
sich neu.
Heute
In 22 Gewerbegebieten mit ca. 370 ha produzieren moderne Unternehmen der elektronischen,
der metallbe- und verarbeitenden Industrie, des holzbe- und verarbeitenden
Gewerbes sowie
des Bauhaupt- und Baunebengewerbes. Daneben besteht ein leistungsstarkes Handwerk,
welches
bereits seit Jahrzehnten die Entwicklung der Region mitbestimmt.
Der Landkreis Sömmerda ist ein Industriestandort
mit Zukunft.
Auch in Wundersleben wurde ein Gewerbegebiet
geschaffen
und Kleinunternehmen siedelten sich an!
Der Ort gehört der Verwaltungsgemeinschaft Straußfurt an.
Thüringer Land
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Rudelsburg
an der Saale |
Die Wartburg |
Feste
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Wachsenburg
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Dornburger Schlösser
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Gemälde des alten Schulgebäudes! |
Historisches © Herr Manfred Bindel Schulleiter i.R. screening & webdesign |
Aus der Chronik
von Wundersleben
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Aus der Chronik von Wundersleben
Über Wundersleben führte einst eine große
Heer- und Landstraße von Franken über Erfurt nach Magdeburg,
die sich in Weißensee mit der Straße von Hessen über Langensalza
nach Leipzig kreuzte. Die Unterhaltung der Straßen und Brücken
oblag dem Fiskus.
Im Jahre 1538 wird zum ersten Male eine Brücke erwähnt, welche aus
Holz über die Unstrut gebaut wurde.
Schon im Jahre 1576 berichtet der Amtmann Schmidt zu Weißensee über
den schlechten Zustand der Brücke und beantragt den schleunigen Neubau,
da bereits einem Henneberg'schen Untertanen 2 starke Hengste durch die Brücke
gefallen und ertrunken seien. Zwei Jahre später stellt Amtmann Schmidt
einen weiteren Antrag.
Er schlägt vor, die gänzlich verfaulte Brücke zu Wundersieben
mit dem Dachwerk des alten Burglehen zu Weißensee auszubessern.
Im Jahre 1595 wurde die Besichtigung der Unstrutbrücke durch "verständige
Werkmeister" angeordnet,
und endlich ein auf 305 Gulden 19 Groschen 6 Pfennige sich belaufender Kostenanschlag
angefertigt. Aber noch im Jahre 1628
wird über die Brücke zu Wundersleben verhandelt, welche nur mit
Lebensgefahr zu passieren sei.
Wann endlich eine neue Brücke in Wundersleben über die Unstrut gebaut
wurde, ist in unserer Chronik nicht belegt.
Erst im Jahre 1809 wird durch ein besonderes Ereignis unsere Brücke erwähnt.
Darüber schreibt Ortsschulze Lompe in der Dorfchronik:
"Am 27. Januar 1809 hatten wir wieder ein sehr großes Wasser. Mehrere
Fuhrleute, welche Salz geladen hatten, mussten mehrere Tage hier Stille liegen.
Unter den Fuhrleuten war ein junger Mann, welcher Bräutigam war, und
kommenden Sonntag getraut werden sollte.
Er verlor die Geduld und wollte unter allen Umständen versuchen durchzukommen.
Er schlug alle Warnungen unserer Ortsbewohner in den Wind und überredete
seine Gefährten.
Sie spannten an und fuhren unter großer Begleitung hiesiger Einwohner
los. Der junge Mann fuhr als erster.
Außerhalb der Brücke warf der starke Wasserstrom das Fuhrwerk um
und führte Pferde, Mann und Wagen dem Flusse zu.
Das zweite Fuhrwerk erlitt das gleiche Schicksal, während das dritte
gerettet werden konnte. Von den beiden ersten konnte lediglich ein Pferd gerettet
werden."
Im Jahre 1815 kam Wundersleben, früher zu Sachsen gehörend, zur
preußischen Monarchie.
Dadurch wurde Wundersleben ein Grenzdorf und im Jahre 1819 wurde ein Nebenzollamt
II. Klasse hier eingerichtet.
Zur Bewachung der Grenze wurden zwei Grenzbeamte hier stationiert.
Damit kam der früher lebhafte Verkehr völlig zum Erliegen. Handel
und Vorspanndienste fielen dadurch weg und führten zu erheblichen Verdienstausfällen.
Im Jahre 1816 war wieder ein Neubau unserer Unstrutbrücke nötig.
Baubeginn war der 29. September.
Der Bau wurde ausgeführt von dem Zimmermeister Koch aus Weißensee.
Als im Jahre 1832 der Bau der Straße von Weißensee über Straußfurt
nach Erfurt fertig war, verschenkte der Fiskus die ehemalige Landstraße
samt ihrer Brücken
und Dämme an die Ortschaften, durch deren Fluren sie führten. Die
Pflegeortschaften wurden von ihren Hand- und Spanndiensten entbunden.
Die Gemeinde klagte gegen den Fiskus wegen der Unterhaltung der Brücke
und der Dämme.
Der Prozess zog sich 11 Jahre hin, die Gemeinde wurde abgewiesen und hatte
400 Taler Prozesskosten zu tragen.Die Brücke musste wegen ihres schlechten
Zustandes
gesperrt werden und die Gemeinde wurde gezwungen, eine Reparatur vorzunehmen.
Diese Reparatur wurde durch Zimmermeister Ohle aus Tennstedt ausgeführt.
Sie kostete der Gemeinde 600 Taler. Ihr Zustand hatte sich dadurch nur wenig
verbessert.
Im Jahre 1852 wurde abermals eine Reparatur an der Unstrutbrücke vorgenommen,
und namentlich wurden mehrere lange und starke Bäume unter dieselbe untergeschoben,
die das Einbrechen derselben verhindern sollten. Diese Reparatur erforderte
abermals einen Kostenaufwand von etwa 140 Talern.
Die Reparatur wurde durch den Zimmer- und Baumeister Koch ausgeführt.
Im Herbst des Jahres 1863 musste eine neue Brücke anstelle der alten
baufällig gewordenen über die Unstrut gebaut werden. Die Kosten
dafür betrugen ca. 2000 Taler.
Der Baumeister war der Zimmermeister Reinhold Lompe, der zweite Sohn des Ortsschulzen
Christian Lompe.
Nach 42 Jahren wurde diese alte inzwischen unbrauchbar gewordene hölzerne
Brücke im Jahre 1905 durch eine eiserne Brücke ersetzt. Die Kosten
betrugen 5000 Mark.
Diese wurde im Jahre 1953 für 5000.- Mark fachmännisch gereinigt
und gestrichen. Die letzte größere Reparatur an unserer Brücke
wurde im Jahre 1959 ausgeführt.
Die Brücke erhielt unter anderen eine neue Fahrbahn. Die Baukosten betrugen
32000,- Mark, welche der Kreis Sömmerda zur Verfügung stellte.
Dem frühesten Nachweis einer Kirche zu Wundersleben
finden wir in einer Urkunde aus dem Besitz des Pastors Leitzmann aus Tunzenhausen.
Aus dieser geht hervor, daß 1449 in Wundersleben eine Kirche stand und
daß Lutze Worm zu Tunzenhausen Lehnsherr des Vikariats und Johannes
Koch Priester
und Vikar daselbst waren. Die Kirchenbücher von Wundersleben gehen zurück
bis etwa 1570 - d. h. bis in die Zeit nach Martin Luthers Tod 1546.
An diese Zeit erinnern einige in unserem Dorfe erhalten gebliebene
Torbögen 1572: Grundstück der Familie Hastolz
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Aus der Zeit des Deutschen Bauernkrieges von 1524/1525,
als der "gemeine Mann" - vor allen die Bauern - sich gegen ihre
weltlichen
und geistlichen Obrigkeiten erhoben, ist in der Chronik überliefert,
daß "gemeine Leute" die Pfarrei zu "Wennersleuben"
gestürmt haben sollen.
Als Beteiligte werden genannt:
Hans Schmelingk, der Hirte zu Wundersleben
Cord Schmit
Sesser, der Hirt zu Sömmerda, und ebenfalls der Hirt von Wenigensömmern.
Als weitere "Urheber" aus Wundersieben werden erwähnt:
Viacus und Celiar der Schneider
und Lorenz Teichmüller.
Viacus und Celiar der Schneider wurden als Gefangene nach Weißensee
gebracht; Lorenz Teichmüller, Cord Schmit und der Hirt Sesser konnten
fliehen.
Hans Schmelingk wurde vor dem Rathaus zu Weißensee mit dem Schwert gerichtet...
1539 wurde von Herzog Heinrich dem Frommen in Sachsen die lutherisch - reformierte
Kirche zur Landesreligion bestimmt.
Er beauftragte Philipp Melanchthon mit der "Visitation" der Kirchen.
Über dessen Einfluß auf die Kirche zu Wundersleben gibt es weder
Protokolle noch sonstige Zeitzeugnisse.
Im Kirchenbuch von Wundersleben aus der Zeit von 1667 - 1800 stehen die Namen
folgender Herren Pastoren:
1. Johannes Zieglerus
2. Henricus Schuppe
3. Casparus Arnoldus
4. Hening Dedekind von 1627 - 1666
Er war in Langensalza geboren und verehelichte sich dreimal. Er überstand
die trübseligen Zeiten des 30jährigen Krieges,
und eine Nachricht von ihm besagt, er habe "im Krieg Pest und Hunger
erlebet und Hunde und Katzen essen müssen".
5. Valentinus Kirchner von 1667 - 1702
Er legte das vorliegende Kirchenbuch an. Er war verheiratet, und seine Frau
Dorothea hatte ihm neun Kinder geboren. Davon starben zwei im Kindesalter.
6. Magister Johann Georg Cordes von 1702 - 1727
J. G. Cordes stammte aus Hemleben, wo er 1668 geboren worden war. Er kam 1700
nach Wundersleben als Substitut des Pfarrers Kirchner und übernahm 1702
das Pfarramt.
Während seiner Amtszeit wurde in den Jahren 1706 bis 1716 die Kirche
umgebaut. Er starb 1727 und wurde auf dem hiesigen Friedhof neben seinen Kindern
beigesetzt.
7. Magister Johann Heinrich Hahn von 1727 - 1757
J. H. Hahn kam von Haßleben, seinem Geburtsort. Seine Ehefrau Anna Regina
geb. Siecheling schenkte ihm sieben Kinder.
8. Georg Christian Seitz von 1758 - 1765
Er war verheiratet mit Juliane Christina geb. Dreyße.
Er starb am 17. Februar 1765 an einer auszehrenden Krankheit.
Das dritte Kind der Pfarrersfamilie wurde etwa 20 Wochen nach dem Tode des
Vaters geboren.
9. Magister Johann Gottlieb Wuttig von 1765 - 1800
Er stammte aus Langensalza. An ihn erinnert eins der letzten historischen
Grabdenkmale auf unserem Kirchhof. Sein Name ist auf der W-Seite des Sockelsteines
noch zu erkennen.
Die große Urne, die dem Stein aufgesetzt war, mußte aus Sicherheitsgründen
abgenommen werden.
J. G. Wuttig war verheiratet mit Johanna Juditha Friederika geb. Gutbier aus
Weißensee. Ein Sohn - Karl August Gottlieb Wuttig - war Pastor in Schwerstedt
bei Weimar.
10. Magister Johann Andreas Werner von 1801 - 1821
J. A. Werner stammte aus Rothenberga. Er kam 1799 nach Wundersleben als Hauslehrer
zum Herrn Hauptmann von Wittern
und erhielt nach dem Tod des Pfarrers Wuttig dessen Pfarramt.
Er war verheiratet und hatte vier Kinder. Im Juli 1821 verließ er Wundersleben
und nahm die Stelle des verstorbenen Pfarrers Rudolphi
in Straußfurt an.
11. Magister Gottlob Christian Horrer von 1821 - 1846
G. Ch. Horrer war zweiter Sohn des Superintendenten Magister Georg Adam Horrer
aus Weißensee.
Er war von 1814 - 1821 Pfarrer in Henschleben und Vehra gewesen und wurde
dann 1821 durch seinen Vater in Wundersleben in das Pfarramt eingeführt.
Pfarrer Horrer verwaltete 25 Jahre lang die hiesige Pfarrstelle. Nach dem
Tod des Pfarrers Werner übernahm er dessen Pfarramt in Straußfurt.
Im Kirchenbuch von 1667 - 1800 finden wir einen Eintrag des Magisters J. G.
Cordes - er schrieb alle seine Vermerke in lateinischer Sprache -
die uns Kenntnis von unserem Gotteshaus gibt, wie es vor 1706 beschaffen war.
Diese Mitteilung wurde bis jetzt noch in keiner Niederschrift über Wundersleben
erwähnt.
Pfarrer Cordes erklärt, daß die durch ihr hohes Alter baufällig
gewordene Kirche abgerissen und erneuert werden mußte.
Sie hatte in der Mitte zwei sich gegenüberstehende Türme besessen,
die sie aber mehr belastet als geschmückt hatten.
Hans Wolar Walm, ein sehr geschickter und erfahrener Holzhandwerker aus Cölleda,
hatte den einen Turm am 11. Mai,
den anderen am 14. Mai 1706 mit seinen Gesellen abgerissen.
Wir wollen versuchen, uns in die Zeit des Kirchenumbaus zurück zu denken.
Im Jahre 1706 waren gerade einmal 58 Jahre vergangen, seit in Münster
und Osnabrück das Ende des furchtbaren Dreißigjährigen Krieges
besiegelt worden war.
In den nachfolgenden Jahren hatten Hunger und Not nur noch ständig zugenommen.
In Thüringen waren mehr als 50 % der Bevölkerung Opfer des Krieges
und seiner Auswirkungen geworden. Umfangreiche Teile des Ackerlandes konnten
nicht bewirtschaftet werden. Kriegsbedingte Viehverluste führten u. a.
zu Mangel an Gespannen ebenso wie auch zu Mangel an natürlichem Dünger
als Voraussetzung für bessere Ernten.
Auch das einst blühende Handwerk und Gewerbe hatte seine hohe wirtschaftliche
Bedeutung eingebüßt.
Wundersleben gehörte zur Zeit des Kirchenneubaus noch zu Sachsen. Hier
regierte von 1694 - 1733 Friedrich August der Erste, Kurfürst von Sachsen
und seit 1697 als August II. König von Polen - bekannter geworden unter
dem Namen August der Starke.
Die polnische Krone und als Voraussetzung dafür seine Konvertierung zum
Katholizismus hatten dem Land enorme Summen gekostet.
Dazu kam, daß Sachsen ab 1700 in den sog. Nordischen Krieg (1700- 1721)
verwickelt war und im Sommer 1706 das Land teilweise von schwedischen Truppen
besetzt war.
Erst 1709 wurde das schwedische Heer in der Ukraine geschlagen und zurück
gedrängt.
Das Land Sachsen hatte sich - ein halbes Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen
Krieg - wirtschaftlich gut erholt. Landwirtschaft,
Handel und Gewerbe florierten wieder. Johann Friedrich Böttger hatte
1713 im Auftrag des Landesherren die Porzellanherstellung erfunden.
Die von ihm gegründete erste Porzellanmanufaktur in Meißen war
für August den Starken zu einer sicheren Geldquelle geworden.
Von 1711 bis 1722 schuf Matthäus Daniel Pöppelmann in seinem Auftrag
und zu seinem Ruhm den Dresdener Zwinger. Das Geld dafür hatten die Landeskinder
aufzubringen.
Das ist eben die Zeit, in der sich Patronatsherren, Pfarrer und Gemeinde zu
diesem gewaltigen Werk, dem Um- und Neubau ihres Gotteshauses, entschlossen.
Es ist für uns heute kaum vorstellbar: Da ist eine Großbaustelle
mit Gerüsten und zu lagernden Baumaterialien mitten auf einem Kirchhof
mit den Grabstätten der vielleicht gerade erst verstorbenen Gemeindemitglieder.
- - -
Wo die Gemeinde während der Bauzeit ihre Gottesdienste gefeiert hat,
ist ebensowenig überliefert wie die Antwort auf die interessante Frage,
wo die laut Kirchenchronik während dieser Zeit verstorbenen 106 Gemeindemitglieder
beigesetzt worden sind. - - -
An den Kirchenbau erinnern ein Stein mit der Jahreszahl 1706 über dem
Westeingang der Kirche sowie der sog. Cavadestein neben dem Südeingang
mit der Jahreszahl 1720.
Dieser Stein zeigt das Wappen der Herren von Wittern, der Patronatsherren
der Kirche. Dieser Stein zierte einst einen Separataufgang zur sog. Patronatsloge
auf der ersten Empore.
Auch am Altar in der Kirche ist die Jahreszahl 1720 zu sehen.
Die dankbare Gemeinde widmete ihrem tüchtigen Pfarrer Cordes einen Gedenkstein.
Dieser steht heute im Altarraum der Kirche.
Von der lateinischen Inschrift sind leider nur noch zehn Zeilen erkennbar;
die übrigen sind verwittert, da der Stein früher auf dem Kirchhof
gestanden hat.
1816 wurde am Kirchweihfest das einhundertjährige Jubiläum der Kirche
gefeiert.
Pfarrer Magister Joh. A. Werner schreibt darüber in der Kirchenchronik:
"Im Jahre 1716 ist der neue Bau des Turmes vollendet gewesen.
Der damalige Pfarrer allhier, Mag. Joh. Georg Cordes, hat sich durch seine
vielfältigen Bemühungen um die Erbauung unseres Gotteshauses und
des Turmes
bei der hiesigen christlichen Gemeinde große Verdienste erworben, und
es ist seiner im Jahre 1816 am Kirchweihfest, wo das 100-jährige Jubiläum
rühmlichst stattgefunden,
dankbar in der Predigt gedacht worden.
1820, am 21. September, wurde die durch einen heftigen Sturm krumm gebogene
Wetterfahne mitsamt dem Turmknopf abgenommen.
Im Knopf fand man in einer blechernen Kapsel ein lateinisches Gedicht und
Nachrichten von Pfarrer Cordes.
Doch die Schriften waren durch eingedrungene Nässe so verwischt, daß
sie kaum noch gelesen werden konnten. Der Wortlaut dieser Schriften ist leider
verloren gegangen.
Am 29. September 1820 wurde der Turmknopf mit der Wetterfahne wieder aufgesetzt.
Pfarrer Werner hatte darin Nachrichten hinterlegt, u. a. über Personen,
die zum Ort in einer amtlichen Beziehung standen, und Mitteilungen über
zeitgemäße Getreidepreise.
Pfarrer Werner erlebte die Niederlage Preußens 1806 mit der Schlacht
bei Jena und Auerstedt gegen die Armeen Napoleons ebenso wie die Völkerschlacht
bei Leipzig 1813.
Er schreibt darüber:
"Nach der großen Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober
1813 - deren Andenken immer noch durch Nachtfeuer auf den Höhen
in unserer Gegend erhalten werden soll - in welcher Preußen, Österreicher,
Russen und Schweden gegen des französischen Kaisers Heer und seiner Rheinverbündeten,
zu denen leider auch die Sachsen gehörten, und wo 800000 Krieger gekämpft
hatten, war Thüringen von Soldaten genannter Nationen ganz überschwemmt.
Am 24. Oktober 1813 zogen 70000 solcher Krieger, größtenteils Russen
und Preußen, den geschlagenen Feind Deutschlands, Napoleon und seinen
Truppen,
verfolgend, vor Wundersleben vorbei. Wir sehen hier Kosaken, Baschkiren, Tataren,
Kalmücken u. a. Ihr Anblick war oft erschreckend.
Doch hatten wir in vieler Hinsicht noch weniger zu leiden, als manche andere
Orte.
Ich habe einmal vor vielen Russen in der Kirche gepredigt, und es verhielten
sich diese sehr ruhig, so wie sie überhaupt die Kirchen und die Geistlichen
sehr respektierten, wenigstens ungleich besser als die Franzosen, welche wir
im Jahre 1806 kennen gelernt hatten."
Anno 1821 war das Orgelwerk ganz und gar unbrauchbar geworden.
Die Gottesdienste mußten ohne Orgelbegleitung abgehalten werden, und
Pastor und Gemeinde bemühten sich um die Wiederinstandsetzung.
Die Gemeinde spendete 100 Taler, der Kirchenpatron 30 Taler.
Die Reparatur wurde den Herren Hartung und Damm in Cölleda übertragen.
Zum Pfingstfest 1824 wurde die Orgel mit Gottesdienst und Predigt geweiht.
Sie war von Pastor Löffler aus Schallenburg und Cantor Kegel aus Gangloffsömmern
- beide galten als Sachverständige - genau geprüft worden.
Die Reparatur kostete immerhin 500 Taler!
In den Jahren 1825 und 1826 erlebte das Dorf zwei große Feuersbrünste.
Dabei wurden 16 Wohnhäuser mit Stallungen und Scheunen ein Raub der Flammen.
Auch der zur Pfarre gehörende Stall und die Scheune waren mit abgebrannt.
Diese wurden 1825 aufgebaut. Die Baukosten betrugen 650 Taler, die Brandkasse
zahlte 250 Taler.
Am Sonntag nach Trinitatis im Jahre 1835 hielt Pfarrer Horrer eine "wortgewaltige
Predigt" über "Die Tat der Brandstiftung und ihre Entsetzlichkeit.
Eine Predigt, veranlaßt durch Erscheinungen der Zeit." Diese Predigt
ist im vollen Wortlaut in der Chronik erhalten.
Nach einer Ruhepause von zehn Jahren war - offensichtlich wieder durch Brandstiftung!
- ein Diemen Gerste, der dem Gut gehört hatte, verbrannt.
An einem Junitage des Jahres 1834 zersprengte der Schulknabe Christian Rahaus
beim Mittagsläuten mit dem aus der mittleren Glocke gefallenen Klöppel
die große Glocke,
an die er unbesonnener Weise geschlagen hatte. Die große Glocke war
damit unbrauchbar geworden.
In der Folge schloß die Gemeinde mit dem Glockengießer Hermann
Sorge aus Erfurt einen Vertrag, der das Umgießen aller drei Glocken
zum Inhalt hatte.
Die große Glocke hatte die Inschrift
M. Johannes Georgius Cordes P. H. L.
Christe Tuos. Campana Greges. expas. cat. adaras
goß mich Paulus Seyer
in Gotha Anno 1716 besessen,
die mittlere Glocke war mit der Inschrift
H. Valentin Kirchner Pfarrer
Samuel Giepe Schuldiener 1679
Heinrich Rudelk u. Anton Hesse
goss mich Hans Wolf Geier in Erfurt H. M. E. versehen
gewesen.
Für die neuen Glocken gibt Pfarrer Horrer folgende Inschriften an: Große
Glocke:
Zu der Andacht heil'gen Stunden
wecke stets den frommen Sinn;
ist ein Leben hingeschwunden
Läute du zur Ruhe hin.
Doch nimmer ertöne zum Schrecken zum Leid,
Ferne sei jede verderbliche Zeit!
Mittlere Glocke:
Jeder ernste Lebensgang
Sei geweiht durch deinen Klang.
m 10. Juni 1835 kamen die umgegossenen neuen Glocken abends 8 Uhr in Wundersleben
an. Am 11. Juni, Donnerstag nach Pfingsten, wurden die Glocken festlich geweiht,
unter Musik und feierlichen Gesängen aufgezogen und im Glockenstuhl befestigt.
Abends 8 Uhr war die Arbeit vollendet,
und es begann das Probeläuten, das ununterbrochen 24 Stunden andauerte
und von sich ablösenden Mannschaften ausgeführt wurde.
Weil auf dem Kirchhof der Raum für Bestattungen nicht mehr ausreichte,
obwohl die Liegezeiten schon auf zehn Jahre begrenzt worden waren, wurde 1842
ein neuer Begräbnisplatz angelegt. Das der Gemeinde gehörende, bisher
an die Schenke verpachtete Grundstück, der sog. Herrenhof, wurde zur
neuen Ruhestätte
für die Verstorbenen bestimmt. An den äußeren Seiten wurden
Pappeln angepflanzt, die übrigen Seiten wurden mit einem lebenden Zaun
aus Sträuchern, Linden
und Kastanien nach außen hin abgeschlossen.
Am 29. Mai 1842 wurde der neue Gottesacker geweiht. Auf Wunsch des Pfarrers
Horrer wurde ein hohes steinernes Kreuz, schwarz angestrichen, aufgestellt.
Am 5. Juni 1842 wurde Johann Christoph Fritsch, ein hochbetagter Greis, als
erster auf dem neuen Gottesacker zur letzten Ruhe beigesetzt.
Am Ende des gleichen Jahres gab es bereits zwanzig neue Gräber.
Am 5. Februar 1846 verstarb in Straußfurt Pfarrer Werner. Pfarrer Horrer,
der schon in Wundersleben sein Nachfolger gewesen war, übernahm nun das
Pfarramt Straußfurt.
Das Pfarramt in Wundersleben trat nun
12. Pfarrer August Wilhelm Behrens 1846 - 1883 an.
Er kam ursprünglich aus Jerichov und war zuletzt als Hauslehrer beim
Herrn Landrat von Münchhausen jun. in Weißensee tätig gewesen.
In den Jahren 1849 bis 1854 brach im Dorf sechsmal Feuer aus. Vierzehn Gehöfte
- Wohnhäuser, Scheunen und Ställe -
waren ein Opfer der Flammen geworden!
Aus dem Jahre 1852 berichtete Pfarrer Behrens in der Kirchenchronik:
"Am 4. Juni, abends gegen elf Uhr, schlug der Blitz in unseren schönen
Kirchturm und in die Kirche ein. Fast jeden Tag zuvor hatten wir ein bis zwei
schwere Gewitter.
Gegen 7 Uhr abends zog ein neuerliches Gewitter vom Westen her auf, das sich
gegen 11 Uhr in unserem Gotteshaus entlud.
Es war ein fruchtbarer Schlag - doch zündete er - gottlob! - trotz seiner
Gewalt nicht.
Der Blitz war unmittelbar unter dem Knopf hinein gefahren und hatte den Spindelbalken
und den Glockenstuhl stark beschädigt,
das Zifferblatt der Uhr weggerissen und die Türen der Schalluken zerschmettert.
Danach war der Blitzstrahl an der inneren Seite der östlichen Turmmauer
hinter der Kanzel,
wo die schwarzen Spuren sichtbar waren, hernieder gefahren und hatte sein
Ende unter den Dielen der Sakristei gefunden, nachdem er mehrere Dielenbretter
abgehoben hatte.
Der Altaristenstuhl war völlig weggerissen und bis vor den Altar geschleudert
worden. Die Kanzel wies nur eine kleine Beschädigung auf, vom Kruzifix
auf dem Altar war ein Fuß abgeschlagen. Alle Fenster waren völlig
zertrümmert.
Es war ein greuliches Bild der Verwüstung! Die Glocken selbst und die
Orgel aber waren unversehrt, obwohl der Glockenstuhl erheblich beschädigt
worden war."
Die dadurch entstandenen Reparaturen wurden dem Zimmermeister Koch in Sömmerda
aufgetragen.
Bei den notwendig gewordenen Baumaßnahmen wurden gleich vier neue Dachfenster
eingesetzt.
Die übrigen Fenster der Kirche und des Turmes, die bisher runde, bleigefaßte
Scheiben gehabt hatten, wurden mit neuen Tafelfenstern versehen.
Dadurch wurde die Kirche innen viel heller. Die Gemeinde begrüßte
diese wohltuende Veränderung. Um der Kirche aus äußerlich
ein schönes Aussehen zu verleihen,
wurden die Mauern auf Kosten der Gemeinde neu berappt. Die für alle Neuerungen
entstandenen Kosten betrugen:
für die Baumaßnahme an der Kirche
und Turm 372 Taler und 19 Groschen,
für den Anputz an Kirche
und Turm 211 Taler und 26 Groschen
insgesamt also 584 Taler und 15 Groschen.
Als Entschädigung für die gemachten Auslagen erhielt die Gemeinde
415 Taler und 18 Groschen.
Die Bauarbeiten an der Kirchen waren ohne Unfälle und ohne andere Unbilden
verlaufen.
Bei der nachfolgenden Säuberung der Kirche aber verletzte sich Christian
Woelke, ein hiesiger Helfer, schwer.
Er war beim Putzen der Dachfenster über dem Dorfgerichtsstuhl abgestürzt
und auf dem steinernen Kirchenboden aufgeschlagen. Obwohl lebensgefährlich
verletzt,
ist er nach langem Siechtum genesen und noch lange am Leben erhalten geblieben.
Das Aufsetzen des Turmknopfes erfolgte am Sonntag, dem 31. Oktober 1852, aus
Anlaß des Reformationsfestes. Im Knopf wurden Nachrichten aus dem Jahre
1820 hinterlegt,
die der Ortsschulze Joh. G. Chr. Lompe und Pfarrer Werner aufgeschrieben hatten.
Pfarrer Behrens berichtet in der Kirchenchronik, daß 1853 im Dorf ein
schlimmes Scharlachfieber ausgebrochen war, von dem in kurzer Zeit alle Kinder
des Dorfes betroffen waren.
In den wenigen Wochen von November bis Jahresende verstarben 16 Kinder! Wie
viele Tränen mögen wohl in diesem Jahre von trauernden Eltern und
Anverwandten zur heiligen Weihnachtszeit geweint worden sein?
Eine ganz andere Botschaft hinterläßt uns Pfarrer Behrens im Jahr
1856. In der Neujahrspredigt nämlich habe er Gott dafür danken können,
daß im abgelaufenen Jahr kein einziges uneheliches Kind geboren worden
war, "was seit langem nicht geschehen" sei.
1867 wurde unser Orgelwerk, das mit der Zeit recht schadhaft geworden war,
durch den Orgelbauer Witzmann aus Kleinrudestedt einer gründlichen Reparatur
unterzogen.
Diese kostete 130 Taler, welche aus der Gemeindekasse kamen. Der gute Ruf
des Orgelbauers Witzmann hatte sich mit dem Ergebnis der Reparatur vollauf
bestätigt.
Am 10. Juli 1871, um 3 Uhr morgens, schlug der Blitz abermals in den Kirchturm
ein. Unterhalb des Knopfes wurden Schiefer mitsamt der Schalung losgerissen,
zwei Gespärre wurden getroffen und teilweise zersplittert. Der Blitz
war im Turm bis an den Glockenstuhl niedergefahren und von dort durch das
Mauerwerk in den daneben liegenden Kirchenraum.
Auch hier hinterließ er böse Verwüstung: Er zersplitterte
Balken und riß Bretter und Leisten los. In den Wänden hatten sich
Risse gezeigt.
Die darauf folgenden Reparaturarbeiten kosteten 600 Taler.
Im Jahre 1873 wurde durch die Fürsorge des Schulzen Louis Lompe ein Blitzableiter
am Turm und auf der Kirche angebracht.
Der Preis betrug ca. 60 Taler.
Nach 37jähriger Amtszeit in Wundersleben legte Pfarrer Wilhelm Behrens
im Jahre 1883 sein Amt nieder und zog mit seiner Familie nach Kassel.
Sein Nachfolger wurde
13. Ernst Theodor Breithaupt 1884 - 1893
E. Th. Breithaupt war am 10. Juni 1855 als Sohn eines Pfarrers in Wernburg
bei Pößneck geboren worden.
Er besuchte Schulen in Halle und Naumburg und studierte danach in Leipzig
und Halle.
Seine erste Arbeitsstelle war die eines Hilfslehrers an der Realschule in
Goßlar am Harz gewesen, sein erste Pfarrstelle hatte er in Schöndorf
bei Ziegenrück erhalten.
Von dort kam er nach Wundersleben
und zog am 29. April 1884 zusammen mit seiner Frau und zwei kleinen Töchterchen
in die alte Pfarre ein.
Aber sein Einzug muß unter keinem guten Stern gestanden haben. Zunächst
war er von September 1883 bis April 1884 hinaus gezögert worden,
weil das alte Pfarrhaus einer dringenden Reparatur bedurft hatte. Dazu kam,
daß die Gemeinde arg verstimmt war, weil der Kirchenpatron Keuthe den
Pfarrer eingestellt hatte,
ohne die Gemeinde vorher zu informieren. Obendrein hatte man dem jungen Pfarrer
die Gemeinde vor seinem Amtsantritt wohl nicht gerade wohlwollend beschrieben;
denn er schreibt darüber:
"lch hörte, daß ein böses Volk da wohne und daß
durch zahlreiche dort wohnende Handelsleute ein Geist des Unglaubens, der
Gleichgültigkeit gegen alles Kirchliche
und der Sittenlosigkeit eingezogen sei. Und in der Tat, wo an hervorragender
Stelle in einer Gemeinde immer wieder schlechtes Beispiel gegeben und die
Gemeinde durch langjährige Prozesse zum grimmigsten Haß verbittert
wird und man sich das Leben erschwert, da muß auch in dem konservativsten
Hause die alte christliche gute Sitte allmählich weichen."
Im Jahre 1885 schreibt Pastor Breithaupt in die Kirchenchronik:
"Das Innere der Kirche war mit der Zeit nicht mehr angetan, die Andacht
der Gläubigen zu wecken und zu heben. Darum wurde der ehemals von weißem
Kalk gefertigte und sehr beschmutzte Anstrich durch einen neuen von gelber
Ölfarbe ersetzt. Besser und kunstgerechter wäre freilich ein eichenfarbig
Kleid gewesen, indes mußte die Maserung,
der beschränkten Geldmittel wegen, unterbleiben."
1886 wurden bei Malerarbeiten am Rittergutsstuhle durch Pastor Breithaupt
im Inneren des hölzernen Altares mehrere aus Holz geschnitzte Figuren
gefunden:
Christus und Maria, beide sitzend mit der Dornenkrone, die vier Evangelisten,
an ihrem Buche kenntlich, sowie zwei Figuren mit Bischofsmützen.
Sämtliche Figuren waren beschädigt und auch nach gründlicher
Säuberung nicht sehr ansehnlich zu machen. Sie wurden auf eigens dazu
angefertigten hölzernen Konsolen
in zwei Gruppen, einer katholischen und einer evangelischen, in der Sakristei
aufgestellt.
Anno 1889 wurde durch den Reg.-Baurat Bockl aus Erfurt festgestellt, daß
das alte Pfarrhaus nicht mehr zu reparieren
und daher ein Neubau dringend geboten sei. So mußte die Gemeinde durch
die Behörden zum Neubau gezwungen werden.
Das führte zu Spannungen zwischen Pfarrer, Gemeindekirchenrat und Dorfgericht.
Der Neubau begann am 6. September 1889.
Am 15. September 1890 wurde das neue Pfarrhaus von Baurat Spielhagen aus Erfurt
im Beisein des Maurermeisters Wolf, des Gemeindekirchenrates und des Ortsvorstandes
geprüft.
Die Familie des Pfarrers hatte zur Feier des Tages ein kleines Festmahl vorbereitet,
aber weder der Gemeindekirchenrat noch der Ortsvorstand nahmen daran teil.
Anfang Oktober bezog die Familie des Pfarrers das neue Pfarrhaus. Aber mit
ihr war auch die Diphtherie eingezogen, und fast alle Hausbewohner erkrankten
an ihr.
Innerhalb einer Woche starben zwei von den vier Kindern des Pfarrers.
Das Denkmal für die beiden Kinder stand noch vor wenigen Jahren auf unserem
Kirchhof - bis Diebeshände in der Nacht
vom 23. zum 24. August 1993 den Bronzeengel vom Sockel gerissen hatten.
Von Pastor Breithaupt ist die interessante Nachricht überliefert, daß
er im Pfarrhof und in der Kastanie erstmals Starkästen aufgehängt
hatte.
Tatsächlich nisten seit 1884 Stare hier, was es vorher in dieser Gegend
nicht gegeben hatte.
1891 wurde der Neubau einer Orgel beschlossen. Es wurde dafür in der
Gemeinde gesammelt. Die Spenden flossen reichlich.
Ein Familienabend u. a. mit Musikvorträgen und einem Vortrag des Pfarrers
hatte eine schöne Summe von 80 bis 90 Mark eingebracht.
Am 25. September 1892 wurde die neue Orgel nach eingehender Überprüfung
feierlich eingeweiht.
Die Baukosten hatten sich auf 3.600 Mark belaufen.
Das erste Orgelkonzert stand unter der Leitung des Großherzoglichen
Hoforganisten Gottschalg. Es wirkten hiesige und auswärtige Kräfte
mit.
Im November 1893 verließ Pfarrer Ernst Breithaupt nach fast zehnjähriger
Tätigkeit die Gemeinde und übernahm das Pfarramt in Schwarz bei
Calbe/Saale.
Sein Nachfolger wurde:
14. Karl Martin Johannes Springer 1893 - 1905
K. M. J. Springer war am 18. Februar 1858 in Hettstedt als Sohn des dort tätigen
Rektors geboren worden.
Er besuchte die Königliche Landesschule Pforta, studierte in Leipzig
und Halle. Seine erste Pfarrstelle war Helbra.
Von dort kam er als Diakonus nach Kindelbrück. 1893 übernahm er
die Stelle des Pfarrers in Wundersleben.
1899 erkrankte Pfarrer Springer ernsthaft. Er verlor die Gewalt über
seine Beine und brach auf der Kanzeltreppe zusammen.
Man vermutete zunächst, daß er von einem Rückenmarksleiden
befallen sei. Später aber stellte man einen Hirntumor fest.
Eine Operation in Halle brachte zwar Heilung, aber die Geschwulst hatte bereits
das Sehzentrum zerstört.
In der Krankheitszeit und bis zur Neubesetzung der Pfarrstelle mußten
oft Lesegottesdienste abgehalten werden. Pastoren aus Erfurt
und aus den Nachbargemeinden hatten die Vertretung übernommen. Trotzdem
hatte das kirchliche Leben in der Gemeinde während dieser Zeit Schaden
genommen.
Im März 1905 wurde die Pfarrstelle dann neu besetzt. Als neuer Pfarrer
zog ein:
15. Friedrich Gustav Wilhelm Schubring 1905 - 1913
Er war der Sohn des Real-Gymnasial-Professors Gustav Schubring aus Erfurt,
geboren am 13. März 1875 daselbst.
Er hatte in Halle und Berlin studiert und war zwischen dem 1. und dem 2. Examen
in Saarlouis als Hauslehrer tätig gewesen.
Danach hatte er eine Anstellung als Hilfsprediger in Alsleben a. d. Saale
innegehabt. Von dort kam er 1905 nach Wundersleben.
1909 gründete er in Wundersleben einen Frauenverein, dem bald mehr als
30 Frauen angehörten.
Der Verein schloß sich der "Frauenhilfe des evangelisch-kirchlichen
Hilfsvereins" an.
Dem Vorstand gehörten Gertrud Schubring als Vorsitzende, Auguste Sparenberg
als Kassiererin sowie Amalie Münchgesang, Olga Kind und Anna Knauf als
weitere Mitglieder an.
Ein großes Ziel des Vereins war u. a. die Gründung einer "Kleinkinder-
Bewahranstalt".
Mehrere Zeitungsberichte belegen, daß sowohl der Frauenverein als auch
die von Kantor Kilian geführte "Liedertafel" eine wahrhafte
Bereicherung des dörflichen Lebens darstellten.
Die Zeit, in der Pastor Schubring in Wundersleben tätig war, wird wohl
nicht zuletzt deshalb oft als "die gute, alte Zeit" bezeichnet.
Seine aufgezeichneten Mitteilungen vermitteln uns allerdings ein anderes Bild.
Mit Besorgnis, so berichtete er, "muß er zusehen, wie sich die
Verhältnisse auf dem Rittergut mehr und mehr verändern, wie deshalb
immer zahlreicher Dorfbewohner mit Fahrrädern nach Sömmerda fahren,
um in der dortigen Gewehrfabrik oder sogar in Erfurt Arbeit zu suchen."
Er sah darin eine ungünstige Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen
Struktur des Dorfes. Er konnte aber als Pfarrer des Dorfes nicht offen gegen
den Gutsherren opponieren,
auf den er nicht nur angewiesen war - von dessen Wohlwollen sein eigenes Wohlergehen
in hohem Maße abhängig war.
Das Gut hatte letzthin das Patronat über die Kirche, es trug 16,33 %
der Kosten bei Reparaturen und Erneuerungen und es bewirtschaftete das Pfarrland!
Ihm waren aber die Schattenseiten einer solchen Abhängigkeit wohl bewußt.
An einer Stelle schrieb er: "Was eine Esche im Garten, das ist ein Rittergut
im Dorfe."
Er sah sich in schwieriger Lage, wenn Eltern ihn um Rat befragten, was wohl
aus ihren Söhnen oder Töchtern nach der Konfirmation werden solle.
Sei es doch "ein Glücksfall,
bei einem mittleren Bauern eine Anstellung zu bekommen". Den Jungen aber
aufs Rittergut zu schicken, sei wohl "das allerletzte,
denn dort lernt er zwischen Polen und Vieh nichts Gutes."
1912 wurde am Kirchturm eine größere Reparatur vorgenommen. Über
Art, Umfang, ausführende Baufirma und entstandene Kosten gibt es keine
Aufzeichnungen.
Am 17. August 1913 verließ Pfarrer W. Schubring Wundersleben und zog
nach Berlin, um dort die 2. Pfarrstelle in der Thomasgemeinde anzunehmen.
Er tat dies seiner Kinder wegen, die in Berlin ein Studium aufnahmen. Sein
Sohn Konrad war später Professor an der Freien Universität Berlin.
Pfarrer Schubrings Nachfolger in Wundersleben wurde
16. Theodor Hupfeld 1914 - 1921
Die Familie Hupfeld kam am 14. Januar 1914 in unsere Gemeinde.
Th. Hupfeld stammte aus Neuenhof bei Eisenach. Er verwaltete die Pfarrstelle
Wundersleben und nebenher über längere Zeit auch die vakant gewordene
Pfarrstelle in Tunzenhausen.
Im Sommer 1918 erhielt er noch seine Einberufung als Vizefeldwebel nach Nordhausen.
Leider liegen von ihm keinerlei Eintragungen in der Chronik vor. Pfarrer Debes
aus Werningshausen schreibt über ihn, er habe trotz körperlicher
Schwäche
und fehlender Gesundheit "bis zur Erschöpfung seine Pflicht getan".
Pfarrer Hupfeld starb am 13. August 1921 im Städtischen Krankenhaus Erfurt
und wurde auf dem hiesigen Friedhof beigesetzt.
Ein großes Steinkreuz erinnerte einst an ihn. Seine Witwe Maria Hupfeld,
geb. Winkler wohnte mit ihren Kindern noch bis zum 1. Februar 1935 im Pfarrhaus.
Sie leitete nach dem Tod ihres Gatten mit Engagement, Nächstenliebe und
Erfolg die Frauenhilfe und den Jungmädchenverein.
Frau Hupfeld zog dann mit ihrer Tochter Eva nach Sondershausen. Die Pfarrstelle
Wundersleben blieb seitdem unbesetzt.
Im Jahre 1916 hatte unsere Kirche elektrisches Licht erhalten.
1917 wurden vom Geläut die große und die kleine Glocke zerschlagen.
Nur die mittlere Glocke durften wir behalten.
Gleichzeitig mußten die zinnernen Prospektpfeifen der Orgel abgeliefert
werden.
Der Krieg forderte seinen Tribut!
Nach dem Tode des Pfarrers Hupfeld wird nun die Pfarrstelle Wundersleben zunächst
von Missionspfarrer Wichner betreut.
Nach dessen Weggang nach Röcken bei Lützen übernahm ab Juli
1925 Pfarrer Ernst Debes aus Werningshausen neben der Pfarrstelle Tunzenhausen
deren Betreuung.
1926 wird die Pfarrstelle Tunzenhausen wieder durch Pfarrer Pflaumer besetzt,
der bis zu seinem Wegzug im April 1929 auch Wundersleben mit versorgt.
Ab Mai 1929 verwaltet wieder Pfarrer Ernst Dewes gemeinsam die Pfarrgemeinden
Wundersleben und Tunzenhausen.
Die Kirchengemeinde Wundersleben war sehr verbittert darüber, daß
ihre Pfarrstelle durch das Konsistorium der evangelischen Landeskirchenbehörde
nicht wieder besetzt worden war. Obwohl die Gemeinde das Pachtgeld für
130 Morgen Land zum Pfarrgehalt beisteuerte,
wurde sie bei der Entscheidung für eine Neubesetzung nicht befragt. Drei
Mitglieder der Kirchenvertretung reisten daraufhin zum Konsistorium nach Magdeburg,
um dort Beschwerde geltend zu machen. Diese wurde abgelehnt, und die Drei
wurden unverrichteter Dinge nach Hause geschickt.
Der Kirchenbesuch ging danach stark zurück. Nur an Festtagen, wenn der
Chor singt, ist die Kirche mit Besuchern gefüllt.
1922 erhielt unsere Kirche wieder ein komplettes Glockengeläut. Die mittlere
Bronzeglocke wurde vom Turm herabgelassen.
Unter großer Anteilnahme der Dorfbewohner wurden drei neue Stahlglocken
aufgezogen. Die alte Bronzeglocke wurde von der Gießerei in Zahlung
genommen.
Am Abend fand im Saal der Gemeindeschenke eine Festveranstaltung statt. Der
Kirchenchor sang einige Lieder und Pastor Wichner erzählte von seinen
Erlebnissen
als Missionar in China. U. a. wurde auch Schillers "Lied von der Glocke"
vorgetragen. Die neuen Glocken tragen nun folgende Aufschriften:
- die große Glocke:
GOTT ZUR EHRE
DEN NACHKOMMEN ZUR LEHRE.
WUNDERSLEBEN 1922
- die mittlere Glocke:
ERZ GAB ICH, EISEN EMPFING ICH.
GEWIDMET VON DER FAMILIE LÜTTICH
IN EISERNER ZEIT
- die kleine Glocke:
GOTT SCHÜTZE UND SEGNE DEUTSCHLAND 1922
Im gleichen Jahr wurden auch neue Orgelpfeifen angekauft.
Im Herbst des Jahres 1928 erfolgte eine gründliche Reparatur des Kirchturmes.
Dabei wurde der Turmknopf abgenommen.
Die darin gefundenen Aufzeichnungen wurden am 2. Kirmestag von der Kanzel
verlesen.
Zu den alten Zeitzeugnissen wurden noch Berichte aus den Jahren von 1870 bis
1928 hinzugefügt, dazu einiges Inflationsgeld.
Das alles, einschließlich der geschriebenen Zeitdokumente, ist dem damaligen
Ortsschulzen Oskar Bernecker zuzuschreiben.
Der Turmknopf wurde dann am 8. September 1928 von dem aus Orlishausen kommenden
Schieferdeckermeister Osterloh und dessen Sohn erneut installiert.
Die Pfarrstelle Tunzenhausen wurde 1929 durch das Konsistorium ausgeschrieben.
Selbst private Bemühungen führten aber zu keiner einzigen Bewerbung
um die offene Stelle!
Dieser traurige Umstand war zurückzuführen auf die noch traurigere
Tatsache, daß gerade erst ruchlose Hände in Tunzenhausen den Friedhof
geschändet hatten, indem sie 32 Grabdenkmäler umgeworfen und zum
Teil zertrümmert hatten. Auf eine Pfarrstelle, in deren Gemeinde solche
Freveltaten geschahen, wollte natürlich kein Geistlicher ziehen!
Am 1. Oktober 1932 wurde die Pfarrstelle Tunzenhausen/Wundersleben dann doch
wieder besetzt. Reinhold Schmidt, geboren 1905 in der Lutherstadt Wittenberg,
bislang Hilfsprediger in Magdeburg gewesen, übernahm das Pfarramt in
den beiden Gemeinden. Es war seine erste feste Anstellung als Pfarrer.
In Wundersleben lernte er seine künftige Ehefrau kennen: Maria Hupfeld,
die jüngste Tochter des verstorbenen Pfarrers Theodor Hupfeld.
Eine zweite Tochter von ihm, Elisabeth, verehelichte Kind, leitete das Singen
in der Frauenhilfe.
Der Frauenchor hat der Kirchgemeinde oft und vorbehaltlos zur Verfügung
gestanden und viel Freude bereitet.
Pfarrer Schmidt wirkte 12 Jahre lang in den Gemeinden Tunzenhausen und Wundersleben,
bis er im August 1944 die Pfarrstelle in Straußfurt übernahm.
Anfang September 1944 trat Pfarrer W. Otte die Seelsorge in Tunzenhausen und
damit auch in Wundersleben an.
Organist war zu dieser Zeit Oskar Knauf, Kirchendiener war Reinhold Quatuor
II und Kirchenkassenrendant Hermann Quatuor I.
An der Kirche hatten sich bedenkliche Bauschäden gezeigt, die nach und
nach von der Kirchgemeinde unter Beihilfe des Konsistoriums behoben werden
konnten.
Der Pfarrer, der von Haus zu Haus gegangen war, hatte 1.143,- Mark für
diese Reparatur gesammelt. Im Mai 1955 verzog Pfarrer Wilhelm Otte nach Halle.
Im letzten Kriegsjahr, in den Abendstunden des 11. April, wurden acht Granaten
auf unser Dorf abgefeuert. Mehrere Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude
wurden stark beschädigt.
Das Kriegerdenkmal vor der Kirche wurde durch einen Volltreffer total zerstört.
Die Sakristei der Kirche wurde stark beschädigt
und alle Kirchenfenster waren zersplittert.
Der Landwirt Ludwig Hastolz, 83 Jahre alt und von 1918 bis 1921 ehemals Bürgermeister
der Gemeinde gewesen, wurde von Granatsplittern getroffen und verstarb an
den Folgen
der Verwundungen. Da die Sakristei in den folgenden Aufzeichnungen nie wieder
erwähnt wurde, kann davon ausgegangen werden, daß sie nach den
starken Beschädigungen
abgerissen worden ist.
Von August bis November 1955 wurden die Gemeinden Tunzenhausen und Wundersleben
von Vikar Gottfried Höfert betreut.
Er wurde von hier an das Predigerseminar nach Wittenberg berufen.
Nach ihm übernahm der Prädikant Klaus Kellermann den Dienst in den
drei Gemeinden Wundersleben, Tunzenhausen und Wenigensömmern.
Er verzog 1958 nach Benshausen im Thüringer Wald.
1949 war eine Erneuerung des Kirchendaches dringend notwendig geworden. Da
es nicht möglich war, das Dach mit Schiefer abzudecken, wurde die Firma
Hans Vogler aus Erfurt
damit beauftragt, die Nordseite des Daches mit Holzschindeln zu decken. Diese
Reparatur kostete 2.400,- Mark. Das Konsistorium Magdeburg gewährte der
Gemeinde
eine Beihilfe von 750,- Mark.
Im Sommer 1954 war wieder einmal eine gründliche Reparatur am Kirchturm
notwendig geworden. Die Arbeiten wurden von einem Dachdeckermeister aus Greußen
ausgeführt.
Das Konsistorium Magdeburg steuerte 12.000,- Mark zu den Baukosten bei. Eine
Abnahme und Öffnung des Turmknopfes hatte aber diesmal nicht stattgefunden.
Am 7. Januar 1958 riß ein starker Sturm die Wetterfahne von der Turmspitze
und schleuderte sie in den Hof des Schuhmachers Gothe (heute die örtliche
Kindereinrichtung).
Hier hatte sie der Landwirt Walter Hastolz gefunden und bei sich aufbewahrt.
Im Sommer des gleichen Jahres zog Pfarrer Schwennicke mit seiner Familie von
Obertopfstedt nach Tunzenhausen.
Seit dem 1. Dezember 1958 war er Hilfsprediger, und im April 1960 wurde er
als Pfarrer in den drei Gemeinden eingeführt.
Von ihm lesen wir in der Kirchenchronik: In Wundersleben findet alle 14 Tage
Gottesdienst statt. Ab Herbst 1959 werden auch alle zwei Wochen Kindergottesdienste
abgehalten.
Pfarrer Schwennicke lädt persönlich zu Familiengottesdiensten ein.
Der Besuch - anfangs recht gut - geht aber dann erheblich zurück.
Zur Frauenhilfe unter der Leitung von Luise Schilling kommen regelmäßig
noch 10 bis 15 Frauen zusammen. Christenlehre erteilt der annähernd 80jährige
Katechet und Lehrer im Ruhestand Steinmetz aus Straußfurt. Organist
ist Herr Fritz Berbig L. Pfarrer Schwennicke beklagt "
die allgemeine unkirchliche Haltung im ganzen Dorfe". Das hatte sich
so geäußert, daß kaum noch Kinder zur Taufe gebracht wurden,
nur selten noch kirchliche Trauungen gefeiert und selbst Beerdigungen mehr
und mehr auf sozialistische Weise begangen wurden.
Im Herbst 1958 wurde dann unsere Kirche wegen Einsturzgefahr gesperrt. Es
durfte auch nicht geläutet werden.
Der Gottesdienst fand während dieser Zeit in Pfarrhaus statt. Nun erst
erhielt Pfarrer
Schwennicke vom Rat des Kreises Sömmerda eine Freigabe der Dachziegel,
die dringend für die Neueindeckung des schadhaften Kirchendaches gebraucht
wurden.
Pastor Kellermann hatte sich vor ihm vergeblich darum bemüht. Da Pfarrer
Schwennicke in seiner Gemeinde Tunzenhausen nicht zur Wahl gegangen war, erhielt
er auch nicht
das von der MTS in Aussicht gestellte Fahrzeug. Er mußte die Ziegel
mit Hilfe von Pferdegespannen und Traktoren, die ihm damals noch existente
Einzelbauern zur Verfügung stellten,
von der Ziegelei in Sömmerda nach Wundersleben transportieren lassen.
Es verging aber noch ein weiteres Jahr, bis im September 1959 der Dachdecker
Melzer aus Greußen und der Zimmermann Höttermann aus Clingen die
notwendigen Arbeiten ausführten. Die entstandenen Baukosten beliefen
sich auf ca. 5.000,- Mark. 1.200,- Mark wurden
von der Gemeinde durch Spenden aufgebracht. Das Konsistorium Magdeburg finanzierte
den Großteil vom Ganzen.
Bei diesen Baumaßnahmen wurden die sechs Dachgauben abgerissen und durch
einfache Dachfenster ersetzt. Darauf sind die häßlichen Löcher
in der Bemalung der Kirchendecke zurückzuführen. Ab Herbst 1959
konnte die Kirche wieder genutzt werden.
Die Familie des Pfarrers war von 1958 bis 1960 von drei auf fünf Personen
angewachsen. Im Pfarrhaus wohnten neben ihr noch drei weitere Mieter.
Da es nicht möglich war, der Pfarrersfamilie im Pfarrhaus mehr Wohnraum
zur Verfügung zu stellen, verließ Pfarrer Schwennicke Anfang 1962
Tunzenhausen
und zog nach Ufhoven bei Bad Langensalza.
Daraufhin übernahm 1962 Pfarrer Johannes Heinrich Braasch die Pfarrstelle
Tunzenhausen/Wundersleben. Infolge eines Nervenleidens konnte er aber nur
die Verwaltung ausüben und leichte körperliche Belastungen tragen.
Den Verkündigungsdienst übernahm deshalb sein Vater für ihn,
der Pfarrer im Ruhestand Konrad Braasch.
Der Gottesdienst findet nun 14-täglich statt. An gewöhnlichen Sonntagen
nehmen etwa 10, am Heiligen Abend etwa 160 Gemeindemitglieder an ihm teil.
Kindergottesdienste wurden seit 1965 eingestellt. Christenlehre erteilt seit
1967 der Katechet Stöcker aus Sömmerda.
Zur Konfirmation kommen etwa 42 % der Schulabgänger. Die Frauenhilfeabende
während der Winterhalbjahre werden von etwa 15 Frauen besucht.
Die Kollekten brachten in den Jahren von 1963 bis 1969 etwa 1.500,-bis 2.000,-
Mark ein. Die Pfarrersfamilie Braasch siedelte im Oktober 1970 von Tunzenhausen
nach Eisenach um.
1964 wurde die Kirche für den Preis von 1.600,- Mark mit einer neuen
Blitzschutzanlage ausgestattet.
Die Orgel erhielt für 1.200,-Mark ein elektrisch betriebenes Gebläse.
1966 mußte das Balkenwerk des Turmes gegen Hausbockbefall imprägniert
werden.
Die entstandenen Kosten beliefen sich auf 1.370,- Mark. Die Schallöcher
erhielten für 700,- Mark neue Läden.
Im gleichen Jahr wurde der Außenaufgang zur Patronatsloge rechts neben
dem S-Eingang der Kirche wegen Baufälligkeit abgerissen.
Der Stein mit der Inschrift und dem Wappen derer von Wittern wurde mit einem
Kostenaufwand von M 700,- an der Kirchenwand aufgestellt.
1967 erhielt die Kirche eine neue Dachrinne, Wert M 1.300,-. Der Innenputz
der Kirche wurde bis auf eine Höhe von zwei Metern abgehackt,
damit die Wände besser als bisher austrocknen können. Kosten: M
300,-.
1970 wurde die Verwaltung der seit 1921 unbesetzten Pfarrstelle Wundersleben
neu geregelt. Sie wurde verwaltungstechnisch an Straußfurt angeschlossen.
Als Pfarrer für die Gemeinde Wundersleben ist nun Friedbert Sydow zuständig.
Der Konfirmantenunterricht wird in Straußfurt abgehalten.
Christenlehre erteilt Katechet Horst Stöcker. Es sollte angestrebt werden,
die Festgottesdienste für alle Gemeinden des Pfarrbereichs zentral in
Straußfurt zu feiern.
Der Versuch scheiterte jedoch an der mangelnden Bereitschaft und auch Mobilität
der Gemeindemitglieder.
1975 verläßt Pfarrer Friedbert Sydow Straußfurt und übernimmt
das Pfarramt an der Sankt-Andreas Kirche in Erfurt.
Im Mai 1975 übernimmt Pfarrer Klaus Burges bis zu seinem Ruhestand im
September 2003 den Pfarrbereich Straußfurt.
Zur Homepage des Kirchenfördervereines
Eine der ältesten Nachrichten über Wundersleben
betrifft eine Mühle an der Unstrut.
Eine von Landgraf Albert von Thüringen anno 1281 ausgestellte Urkunde
nennt den Ort Winrisleben
(,.. unum molendinum, situm in villa Winrisleben et aqua Dunstrot ...)
Das Kirchenbuch von Wundersleben von 1667 bis 1800 nennt uns im Geburten -
und Heiratsregister auch einige Namen.
Anno 1683: Meister Hanß Christian Müller, Mahlmüller 1685 Meister Hanß Kersten, Müller 1690: Meister Hanß Schwitzer, Ölmüller 1701: Meister Nicolaus Koch, Ölmüller 1727: Meister Gabriel Kerstens, Müller 1734: Meister Johann Christoph Hahnemann, Müller 1734: Meister Johann Christian Zipfler, Müller 1745: Johann Georg Lischmann, Müller 1760: Johann Christian Müller, Unstrutmüller |
Anno 1763 finden wir auch folgende Nachricht im Kirchenbuche:
Der Müller in hießiger Unstrutmühle Meister Johann Christian
Müller ließ 2 blaue taftene communicenta Tücher
mit silbernen Spitzen verfertigen und legte sie auf den Altar. Die Buchstaben
S. M. heißen Susanne Müllern, welche des obigen Eheweibe.
1863 nennt Landrat F. B. Frhr. von Hagke in seiner "Beschreibung
des Weißensee'r Kreises" für Wundersleben in der Tabelle der
Fabriken und Gewerbsanstalten:
2 Webstühle zu Leinwand als Nebenbeschäftigung
1 Ölmühle mit einer Person als Aufsichtspersonal und 1 männl.
Arbeiter
1 Wassermühle mit 3 Mahlgängen, 1 Meister und 1 Gehilfen.
Johann Georg Christian Lompe schreibt in der von ihm angelegten Chronik des
Dorfes Wundersleben im Jahre 1854:
"Nachdem die hiesige Gemeinde es seit circa 80 Jahren, als in welcher
Zeit unsere frühere Unstrutmühle durchs Wasser weggerissen war,
schmerzlich empfunden hatte, was es heißt, keine Mühle in einem
Orte zu haben, war längst ihr sehnlichster Wunsch gewesen, dieser Wohltat
sich wieder erfreuen zu mögen.
Auch hatte Schreiber, dessen dermalige Ortsschulze Lompe nichts unversucht
gelassen, ihnen womöglich ihren Wunsch zu verwirklichen, und diese Wohltat
zuzuwenden.
Allein, ob schon während der Zeit seiner Amtsführung mehrfache Anträge
hierzu, seitens fremder Bauunternehmer gemacht wurden, er auch mit größter
Bereitwilligkeit jederzeit entgegenkam, und die Sache zu fördern suchte,
so blieb es leider doch jedes Mal nur bei dem Wollen aber zur Ausführung
brachte es keiner derselben,
so dass man zuletzt alle Hoffnung auf Wiedererbauung einer Mühle aufgegeben
hatte. Ein Haupthindernis, an welchen alle bisherigen Versuche scheiterten,
waren die Widersprüche seitens Werningshausen, welche, da sie drei Mühlen
in ihrem Orte hatten, und der größere Teil hiesiger Bewohner ihr
Mahlgut dahin brachten,
ihres Vorteils willen alles nur Mögliche aufstellten, diese Vorhaben
zu hintertreiben und zu vereiteln, bis dann endlich die Unternehmer davon
ermüdet abgingen,
und ihr Vorhaben aufgaben.
Im Herbst des Jahres 1852 erschien hier der Mühlenbauer Herr Karl Straube
aus Allstedt, welcher in der Ferne auf zufällige Weise von der Lage der
Sache Kunde erhalten hatte,
und machte ebenfalls den Antrag, hier eine Mühle bauen zu wollen.
Am 6. Januar 1853 wurde der Gemeinde Vortrag darüber gehalten, und sie
kam zugleich dahin mit ihm überein, ihm den zu den Mühlgraben erforderlichen
Grund und Boden sowie auch überdies noch 100 Quadratruten zum Aufbau
der Mühlengebäude von ihrem Eigentum käuflich,
und zwar für den sehr billigen Preis 10 Silbergroschen pro Quadratrute
ablassen zu wollen, wogegen der Bauunternehmer die Verpflichtung übernahm,
die durch diesen Bau notwendig werdenden Brücken zu übernehmen und
selbige fort und fort zu unterhalten. Obgleich die Gemeinde in Rücksicht
ihres einstimmigen Wunsches wieder eine Mühle besitzen zu mögen
hier ein bedeutendes Opfer brachte. Da sie ihren Grund und Boden für
einen solchen billigen Preis überließ und den Antragsteller auch
sonst auf alle mögliche Weise
fördernd entgegen kam und sein Vorhaben zu erleichtern suchte, so fand
er doch ebenso wie bereits schon alle seine Vorgänger dieselben Hindernisse
und Widersprüche von Werningshausen, denen sich im Verlaufe der Sache
auch die übrigen Müller in Henschleben, Schallenburg und auch sogar
von Straußfurt zugesellten und mit Werningshausen gemeinschaftliche
Sache machten. Man behauptete das Grammewasser, welches die Mühle treiben
sollte, als Werningshäuser Eigentum bis zum Unstrutflusse und verweigerte
die Entnahme desselben, sowie man auch überhaupt noch allerhand nichtssagende
Einwendungen aufstellte. Man versuchte ein gütliches Übereinkommen
mit Werningshausen
auf alle nur mögliche Weise, man machte Offerten und Anerbietungen aller
Art, aber alles umsonst, man ging sogar da noch nicht darauf ein, als ihnen
seitens des Wunderslebener Ortsschulzen eine Entschädigung von mindestens
200 Taler Wert an Grund und Soden für eine einzige Quadratrute geboten
wurde, welche man in der Quere durch ihren Grenzgraben
am Karun verlangte, nur diese durchzustechen und von da aus das Grammewasser
in unserer Flur herunter zu leiten.
Glücklicherweise fand aber im Jahre 1853 eine Regulierung der Landesgrenze
zwischen den Herzoglich Gothaischen und den Königlich Preußischen
Landen, und somit auch zwischen Wundersleben und Werningshausen statt, und
bei dieser Regulierung wurde gerade auf dieser Stelle der Hoheitsgrenze eine
gerade Richtung angewiesen,
und uns ein Stück Land von den oberen Nachtflecke abgeschnitten. Was
an Gotha fiel,
hingegen aber von hier aus in gerader Richtung bis an die Vehraer Wiesen sowohl
der Grammefluß als auch der an denselben liegende Länderteil
als preußisches Gebiet bezeichnet. Hierdurch wurde uns nun unentgeltlich
gewährt, was wir früher durch große Anerbietungen nicht hatten
erhalten können.
Ein nach diesen erfolgter Umtausch der gegenseitig abgeschnittenen Länderteile
zwischen den beiden Gemeinden machte unsere neue Flurgrenzen mit den Hoheitsgrenzen
gleich
und lösten unser letztes Hindernis völlig.
Am 23. Juni 1854 erhielt der Herr Mühlenbaumeister Straube die Konzession
zum Bau der Mühle von der Königlichen Regierung zu Erfurt
und schon am 27. Juni 1854 wurde der Grundstein zur Mühle gelegt.
Der Bau derselben ging mit fast unglaublicher Schnelligkeit vor sich, denn
obgleich das Gebäude großartig und der neue Mühlgraben von
seiner Einmündung in die Gramme
bis zu seinem Ausflusse in die Unstrut sehr lang war und viele Arbeiten verursachte,
so war er doch in der Zeit von 6 Wochen bis auf einige Nachhilfe hier und
da größtenteils fertig.
Es arbeiteten aber auch alltäglich 70 bis einige 70 Mann an selbigen,
die unter Leitung und Beaufsichtigung des Ortsschulzen standen, welcher sämtliche
Rechnungen über diesen Bau führte und die Zahlungen leistete.
Unerwähnt kann dabei nicht bleiben, dass der dermalige Ortsschulze Lompe
sich unendliche Mühe gegeben und Arbeiten gemacht hat, um seiner Gemeinde
die Wohltat
einer eigenen Mühle wieder zu beschaffen, und das wohl mit vollem Recht
gesagt werden kann, dass das endliche Zustandekommen dieses Werkes nur seinen
unermüdlichen Bestreben zugeschrieben werden kann.
Mit dem Tage Michaelis als am 29. September 1854 hatten wir die Freude den
ersten Mahlgang in Gang gesetzt zu sehen und die ersten Früchte
hier mahlen zu können. Es war also in Zeit von cirka 3 Monaten das Gebäude
aufgeführt, der Graben vollendet und das Werk aufgestellt.
Soweit die Aufzeichnungen des Ortsschulzen Lompe.
Im Jahre 1886 kaufte Julius Brodkorb die Mühle von Straube. Zu diesem
Zeitpunkt befand sich die Mühle in einem sehr schlechten Zustand.
Straube war in Konkurs gegangen und das Gebäude hatte einige Jahre leer
gestanden. Fenster und Türen und was sonst nicht niet- und nagelfest
war, war geplündert worden.
Julius Brodkorb, der vorher eine Mühle in Orlishausen in Pacht betrieben
hatte, baute die Mühle wieder auf und führte sie erfolgreich weiter.
Von seinen beiden Söhnen übernahm im Jahre 1900 Arno Brodkorb die
Mühle, während sein Bruder Oswald Brodkorb eine Mühle in Werningshausen
in Pacht nahm
und später eine Mühle in Möbisburg bei Erfurt kaufte.
Hermann Schatz, der Schwiegerschn von Arno Brodkorb, übernahm 1938 die
Mühle. Er baute die Mühle um und brachte sie auf den neuesten Stand
der Technik.
Der Antrieb erfolgte über eine neue Turbine, außerdem baute er
neue Mahlstühle, einen neuen Schrotgang, Elevatoren und einen Aufzug
ein.
Nach dem Tode von Hermann Schatz am 12. Oktober 1944 übernahm dessen
Frau Hilda Schatz, geb. Brodkorb die Mühle und führte sie weiter.
Der letzte Müllergeselle war Hans Gille.
Nach einem langanhaltenden, strengen und schneereichen Winter führte
die Unstrut im März 1947 gewaltiges Hochwasser.
Das Wasser ging einen halben Meter hoch über den Damm in Richtung Pinsdorf.
Der Verkehr zwischen Dorf und Mühle war acht Tage lang unmöglich.
Im Unterdorf musste das Vieh aus den Ställen gerettet werden. Da auch
eine Verständigung zwischen den Bewohnern der Mühle und dem Dorfe
nicht möglich war,
erhielt die Mühle ein Telefon.
Die Mühle, die ihren Bedarf an Elektroenergie über einen eigenen
Generator gedeckt hatte, wurde 1963 an das öffentliche Stromnetz angeschlossen.
Infolge der sich geänderten Verhältnisse auf dem Dorfe, die Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften (LPG) schroteten ihr Futtergetreide selbst, gingen
der Mühle
die Aufträge und damit auch die Einnahmen aus. Als dann infolge der Unstrutregulierung
der Mühle buchstäblich das Wasser abgegraben wurde,
stellte die Mühle im Jahre 1970 ihren Betrieb ein.
Als am 29. September 1854 der erste Mahlgang in Gang gesetzt wurde, war das
ein wichtiges und besonderes Ereignis für das Dorf.
Als die Mühle ihren Betrieb 1970 nach 116 Jahren einstellte, wurde es
im Dorf kaum bemerkt.
Diavortrag Herr Bindel/ L. i. R.
Aus dem Kirchenbuch von 1667 - 1800
der Kirchenchronik von 1815, angefangen von Pfarrer Horre
der Schulchronik von 1877, angefangen von Lehrer Delle
Im Kirchenbuch der Gemeinde Wundersleben, welches von Pfarrer Johann Valentin
Kirchner angelegt wurde, der von 1667 bis 1702 die Pfarrstelle Wundersleben
verwaltete,
lesen wir auf der ersten Seite des Geburtenregisters die folgende Eintragung:
"Anno 1667: H. Samuel Giepen Schulmeisters Weib Fr. Susanne den 9. Dezember
nachts um 2 Uhr ein Töchterlein geboren das den 11. Febr. getauft.
Paten: H. Jost Albrecht von Wittern Hauptmann
Fr. Dorothea Kirchnerin die Frau des Pfarrers
Catharina Fischerin das Kind: Dorothea Catherina
Der Name Samuel Giepe begegnet uns noch einmal als Inschrift auf der mittleren
Kirchenglocke, welche bis 1835 in unserem Kirchturm hing und mit den beiden
anderen Glocken
im Jahre 1835 umgegossen wurde. Ihre Inschrift lautete:
H. Valentin Kirchner Pfarrer
Samuel Giepe Schuldiener 1679
Heinrich Rudelk u. Anton Hesse
goss mich Hans Wolf Geier in Erfurt H. M. E.
Samuel Giepe war also um 1667 Schulmeister in Wundersleben. Der Pfarrer beginnt
seine Eintragung mit "H" d. h. Herr, eine Anrede, die er nur bei
wenigen Einwohnern verwendet. Taufpaten sind die Pfarrersfrau und ein Mitglied
der Familie des Gutsbesitzers. Auch bei einem anderen Kind des Schulmeisters
steht eine Jungfrau Anna Catherina von Rudolphin Pate.
Allein auch die Tatsache, dass sein Name an zweiter Stelle auf der Kirchenglocke
stand, zeigt uns, dass er in Wunderleben eine geachtete Persönlichkeit
war.
Es gab also um diese Zeit eine Schule in Wundersleben. Wir wissen nicht, wo
sie sich befand und was in dieser Schule unterrichtet wurde; vermutlich Religion,
Singen, Rechnen,
Schreiben und Lesen. Auch wissen wir nicht, welche und wie viele Kinder diese
Schule besuchten. Bedeutsam für uns ist aber, dass Wundersleben schon
100 Jahre,
bevor im Lande Sachsen die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde,
einen Schulmeister und somit auch eine Schule hatte.
Im Kirchenbuch befindet sich eine Abschrift dieser Anordnung:
"Gnädigster Befehl d. d. Dresden vom 29. Oktober 1766 wegen der
Schulen, dass die Kinder vom 5. bis 14. Jahre in die Schulen gehen und die
Schule weder im Winter noch im Sommer,
die einzige Zeit der Ernte von 4 Wochen in Ansehung derer etwas herausgewachsenen
Kinder ausgenommen ausgesetzt werden solle. etc."
Der Befehl schließt mit der Anweisung, "dass Eltern und Vormünder,
die Kinder nicht zur Schule halten der weltlichen Obrigkeit anzuzeigen sind.
praef d. 5. März 1767"
Im Jahre 1686 wird dann ein Herr Johann Georg Drößler, hiesiger
Cantor, im Kirchenbuch genannt. Sein Name erscheint noch einmal in den Jahren
1689 und 1691.
Im Jahre 1704 erscheint dann im Geburtenregister der Name Johann Christian
Reinhard Ludiministri Substituti, was übersetzt so viel wie Stellvertreter
oder Nachfolger
des Schuldieners bedeutet.
1706, 1709 und 1710 erscheint sein Name mit der Bezeichnung Ludiministri Substituti,
während 1714 und 1715 Ludiministri und 1718 und 1724 die Bezeichnung
Cantor verwendet wird.
Wahrscheinlich war Joh. Chr. Reinhard von 1704 bis etwa 1710 Stellvertreter
oder Gehilfe des Cantors J. G. Drößler und übernahm dann
dessen Amt
J. G. Drößler verstarb am 14. Juni 1713.
Der zweite Sohn des Cantors Joh. Chr. Reinhard - Siegmund Valentin Reinhard
wird im Jahre 1737 als Cantoris Substituti genannt.
Ab 1750 wird er als hiesiger Cantor bezeichnet. Er ist demnach bei seinem
Vater in die Lehre gegangen und hat dann dessen Amt übernommen.
Die letzte Eintragung über ihn stammt aus dem Jahre 1794.
Joh. Chr. Reinhard verstarb am 27. Febr. 1748.
Nach Siegmund Valentin Reinhard hat dessen Sohn Christian Siegmund, geboren
am 11. März 1743 das Cantorenamt übernommen.
Er wird 1782 zum ersten Mal als hiesiger Schuldiener genannt. Sein Name steht
noch fünfmal im Geburtenregister
(1785 - 1787 - 1789 - 1791 - 1794)
Cantor Siegmund Valentin Reinhard verstarb am 24. Dezember 1780.
Dazu schreibt der Pfarrer Wuttig im Sterberegister einen Nachsatz:
"Ob man gleich ungebührl. Weise verlangt, dass dessen Leichnam in
die Kirche gesetzt würde, so ist es doch billig abgeschlagen worden weil
es hier nicht gewöhnlich,
dass ein Schulmeister diese Ehre erhalten kann."
Als nächster Cantor wird Friedrich Reinhard genannt. Es könnte sich
um den am 14. März 1785 geborenen Sohn des Chr. Siegmund Reinhard,
nämlich Johann Friedrich Sylvester handeln.
Friedrich Reinhard war von 1808 bis 1816 Cantor in Wundersleben.
Die Familie Reinhard hatte also von 1710 bis 1816, das sind 106 Jahre, das
Cantorenamt in Wundersleben - eine Familientradition die ihresgleichen sucht!
In einem Haushaltsanschlag der Schule vom Jahre 1925 werden auch die Schulgebäude
bewertet. Lehrer Kilian gibt darin für die Lehrerwohnung, welche früher
als Cantorei bezeichnet wurde, das Baujahr 1735 an. Danach könnte Joh.
Christian Reinhard ihr erster Bewohner gewesen sein!
An Stelle des Cantors Reinhard, der 1816 sein Schulamt niederlegte, wurde
von dem neuen Schulpatron auf Empfehlung des derzeitigen Pfarrers
Herrn M. Werner der Schulamts - Aspirant Helfer aus Weißensee berufen.
Der Schullehrer und Cantor Helfer legte im Juni 1825 sein Schulamt nieder,
an dessen Stelle der Schullehrer in Rehungen Heinrich Kämmerer von dem
Herrn
Kirchenpatron Dr. Rumpel vociert wurde, der zu Anfang Juli sein Amt antrat.
Mit Anfang des Jahres 1833 fanden sich hier, nachdem die Cholera unsere Gegend
verlassen hatte, die Pocken ein, von denen sehr viele Kinder,
und zwar auch solche, die bereits geimpft waren, am meisten junge Leute, die
in dem Alter von 20 bis 30 Jahren standen, befallen wurden.
Der brave Schullehrer und Cantor Herr Heinrich Kämmerer, ebenfalls von
dieser Krankheit ergriffen, erlag derselben als das erste Opfer am 12. Februar
in einem Alter
von noch nicht völlig 29 Jahren.
Die Schule und ihre Lehrer
1. Fortsetzung
Die durch den Tod des Cantors Kämmerer unbesetzte Schulstelle wurde von
dem Kirchenpatron Dr. Rumpel, jetzt Stadtrat in Erfurt,
durch den Schulamts-Kandidaten Herrn Georg Christoph Hoffmann aus Weißensee
gebürtig, neu besetzt. G. Chr. Hoffmann wirkte 12 Jahre in der Gemeinde,
doch muss es zwischen ihm und der Gemeinde zu Differenzen gekommen sein; denn
er wurde veranlasst, sein Schulamt niederzulegen, welches am 7. November 1845
geschah.
Weder Pfarrer noch Ortsschulze äußern sich über die Gründe.
Vom Kirchen- und Schulpatron Herrn Friedrich Keuthe wurde der Schulamts-Kandidat
Herr Gottfried Gebauer aus Erfurt als Nachfolger gewählt, welcher am
9. Dezember 1845
den Schulunterricht übernahm. Im Sommer 1848 wurde Cantor Gebauer an
die St. Petri Gemeinde Sömmerda als Schullehrer und Cantor berufen.
Ein Vierteljahr lang unterrichtete Pfarrer Behrens die Schulkinder, bis der
von Herrn Schulpatron Keuthe ernannte Herr Gottlob Messing, gebürtig
aus Wenigensömmern,
von Merxleben bei Langensalza am 12. Oktober 1848 hier einzog und im Auftrage
der Königlichen Superintendentur vom Ortspfarrer am 16. Oktober feierlich
in sein Amt eingewiesen wurde. Lehrer Gottlob Messing wurde
nach 29 Jahren Tätigkeit in Wundersleben im Jahre 1877 mit einem Drittel
des Gehaltes in den Ruhestand versetzt und zog nach Weißensee.
Im Jahre 1852 wurde die Schulstube vergrößert durch Hinzunahme
einer Kammer auf der Nordseite. Der Bau und sonstige Reparaturen kostete 153
Taler 9 Groschen 10 Pfg.
Nachfolger des Lehrers G. Messing wurde der Schulamtskandidat Louis Friedrich
Hermann Albert Delle aus Erfurt. Lehrer Delle hielt
am 15. Oktober 1877 in hiesiger Kirche eine Probe und wurde von den Gemeindegliedern
einstimmig erwählt und vom Schulpatron Herrn Rittergutsbesitzer Eduard
Keuthe zur provisorischen Anstellung berufen und bestätigt. Der Unterricht
begann nach erfolgter Einführung durch den Lokal-Schul-Inspektor Herrn
Pastor Behrens am 16. Oktober.
1852 hat Wunderleben 573 Einwohner.
1845 besuchen 120 Kinder die Schule.
1884 werden 19 Kinder konfirmiert.
Kreisschulinspektor ist Herr Oberpfarrer Busch aus Weißensee (1884)
Regierungs- und Schulrat ist Herr Bieck aus Erfurt.
1878 wurde der Turnunterricht in hiesiger Schule eingeführt.
Im September 1886 schied Lehrer Delle aus seinem Amte und übernahm eine
Stelle an einer Volksschule in Erfurt.
An seine Stelle trat der Schulamtskandidat J. A. Leonhard Hergt aus Erfurt,
der aber nach 1 Jahr 9 Monaten wieder zurück nach Erfurt ging.
Vom 15. Juni bis 1. Oktober 1888 übernahm der Schulamtskandidat Friedrich
Emil Otto Carl aus Lucka (Sachsen-Altenburg) den Unterricht
in hiesiger Gemeinde.
Am 1. Oktober 1888 übernahm der bisher in Sparnberg, Kreis Ziegenrück
angestellte Cantor und Lehrer Ludwig Rabes, aus Erfurt gebürtig,
das hiesige Schulamt. Er zog mit seiner Frau am 27. Sept. hier ein und wurde
durch Pastor Breithaupt und Schulze Lompe im Namen
der Gemeinde begrüßt. Cantor Rabes unterrichtete etwa 80 Kinder.
1890 wird in Wundersleben eine Schulsparkasse gegründet. Der Vorstand
derselben setzt sich zusammen aus:
1. dem Localschulinspektor Herrn Pastor Breithaupt, Vors.
2. dem Cantor Rabes, Kassierer
3. dem Schulvorstandsmitglied Schulzen Lompe
4. dem Schulvorstandsmitglied Schulze des. Münchgesang
5. dem Schulvorstandsmitglied Schöppen Schröter
6. dem Kirchkassenrendanten Rudolf Knauf
7. dem Kirchenältesten Friedrich Fritsche und
8. dem Kirchenältesten Friedrich Schatz.
In einem Protokoll des Schulsparkassen-Vorstandes steht hinter dem Namen des
Herrn Rabes "Lehrer, Cantor, Küster, Organist"!
Wahrlich ein vielbeschäftigter Mann. Am 1. Oktober 1895 verließ
der Lehrer und Cantor Herr Ludwig Rabes unsere Gemeinde,
in welcher er 7 Jahre seines Amtes gewaltet, um die erste Lehrerstelle in
Straußfurt zu übernehmen. Zu seinem Nachfolger wurde vom Patronat
auf Vorschlag des Ortspfarrers
der Lehrer Hermann Haupt aus Niedertopfstedt, bisher in Ziegenrück tätig,
bestellt. Der Lehrer und Cantor H. Haupt erkrankte leider bald an der Schwindsucht,
so dass er den Unterricht von Pfingsten 1896 an einstellen musste. Vergeblich
suchte er Heilung in Ziegenrück und Andreasberg; am 18. August 1896 erlag
er seinem Leiden.
Die Leiche wurde nach seinem Heimatort Niedertopfstedt gebracht, nachdem zuvor
eine Trauerfeier auf dem hiesigen Schulhofe unter zahlreicher Beteiligung
der Gemeinde gehalten worden war.
Nachdem das bisherige Schulzimmer in der Küsterei unzureichend und den
Anforderungen längst nicht mehr genügte, erklärte sich die
Gemeinde zum Neubau eines Schulsaales bereit
und übertrug die Maurerarbeiten dem Maurermeister Krämer aus Weißensee.
Der neue Schulsaal wurde neben das Armenhaus gebaut und konnte am 12. Januar
1899 bezogen werden.
Die ehemaligen Schulzimmer wurden der Wohnung des Lehrers hinzugezogen. Freilich
machte sich bald der Nachteil bemerklich,
dass Schule und Schulhof von der Lehrerwohnung entfernt und daher den größten
Teil des Tages unbeaufsichtigt blieben.
Als Nachfolger trat im Oktober 1896 der Lehrer Wilhelm Siegling, bisher in
Schmiedefeld, sein Amt hierselbst an. Am 1. Oktober 1904 verließ
Lehrer Siegling Wundersleben und trat die mit dem Kirchenamte verbundene 3.
Knabenlehrerstelle in Sömmerda an.
Am 1. Oktober 1904 übernahm Lehrer Wilhelm Kilian aus Erfurt die hiesige
Lehrerstelle. Er hatte vor Eintritt in den Schuldienst
seiner Militärpflicht als Einjähriger genügt und hielt seine
Lehrprobe in hiesiger Schule in Uniform ab.
Schon 1905 war des öfteren die Gründung einer 2. Lehrerstelle von
der Regierung gefordert worden. Pfarrer und Ortsschulze erreichten durch persönliche
Vorstellungen noch einmal Aufschub, aber im März 1912 wurde die Gemeinde
gezwungen, eine 2. Lehrerstelle einzurichten.
Am 1. Juli 1912 übernahm Herr Willi Luttermann die 2. Lehrerstelle.
Der Unterricht musste für beide Abteilungen und Pfarrstunden hintereinander
von 8 Uhr bis 5 Uhr oder gar bis 7 Uhr im Schulzimmer stattfinden.
Im Frühjahr 1913 wurde an den Schulsaal im Osten ein 2. Klassenzimmer
und in der Mitte darüber eine Wohnung angebaut. Bauausführung hatte
die Firma Heinrich in Sömmerda.
Sie hatte den Auftrag erhalten, weil sie das billigste Angebot gemacht hatte.
Infolgedessen wurde des öfteren versucht, minderwertige Arbeit zu liefern.
Pastor Schubring war unermüdlich tätig, die Ausführung des
Baues zu überwachen. Noch ehe der ganze Bau fertig war, konnte das neue
Klassenzimmer am 25. Regierungs-Jubiläum des Kaisers am 15. Juni 1913
mit einer Kaiserfeier eröffnet werden.
In den Sommerferien des Jahres 1914 brach der schreckliche Weltkrieg aus.
45 Männer aus unserer Gemeinde wurden zum Militärdienst eingezogen,
darunter auch der 2. Lehrer Luttermann. Im Januar 1915 erhielt die Gemeinde
die Nachricht vom "Heldentod" des Lehrers Luttermann. Zum ehrenden
Gedenken an ihn wurde in der Schule eine Tafel angebracht.
Am 15. Oktober 1916 übernahm der kriegsbeschädigte Lehrer Bachmann
aus Erfurt die 2. Lehrerstelle in Wundersleben.
Am 1. Juni 1917 wurde Lehrer Kilian zum Militär einberufen. Er diente
zunächst als Unteroffizier im Inf. Reg. 71; im Felde führte er einen
Scheinwerferzug an der Westfront.
Die Vertretung übernahm Lehrer Bachmann und ab 15. Juni Lehrer Schilling.
An dessen Stelle trat am 5. September Lehrer Leffler
aus Tunzenhausen. Er war vom Militär zurückgestellt. Die Arbeit
an zwei Schulen, die Wege bei ungünstigem Wetter,
dazu die kärgliche Ernährung - er erkrankte an einer Grippe und
starb am 4. November 1918.
Im Dezember 1918 kam Lehrer Kilian, der zuletzt auf dem Balkan eingesetzt
war, wieder zurück. Im Januar 1919 wurde Lehrer Stange
aus Erfurt als 2. Lehrer hier eingestellt.
In der Zeit der Inflation müssen die hiesigen Lehrer im Nebenberuf Landwirtschaft
betreiben - vier Morgen Land bringen so viel ein,
wie das Amt des Lehrers.
1924 erteilt jeder Lehrer wöchentlich 30 Unterrichtsstunden. Für
Lehrmittel gibt die Schulkasse jährlich 150.- Mark aus.
Am 1. Januar 1929 verlässt Lehrer Wilhelm Kilian Wundersleben und übernimmt
eine Tätigkeit als Lehrer und Kirchenbeamter
in Gispersleben - Viti.
An Stelle des Lehrers Kilian trat am 1. Januar 1929 der Lehrer Paul Lehmann
aus Dachwig, Kreis Erfurt gebürtig.
Er war bisher in Benshausen, Kreis Schleusingen tätig.
Lehrer Stange, der bisherige Inhaber der 2. Lehrerstelle verließ am
1. Juli 1929 Wundersleben. Er wurde auf eigenen Wunsch nach Schwerstedt versetzt.
An seine Stelle trat Lehrer Richard Schulze aus Mühlhausen in Thür.,
bisher in Großwelsbach, Kreis Langensalza tätig.
Während einer schweren Erkrankung des 1. Lehrers in den Jahren 1932/33
wurde dieser durch eine Schulamtsbewerberin, Frl. Warda aus Neudietendorf
vertreten.
Am 1. Februar 1935 wird Lehrer Paul Lehmann nach Henschleben versetzt.
Am 16. Februar 1935 übernimmt der Schulamtsbewerber Gerhard Weißleder
die 1. Lehrerstelle.
Er verlässt Wundersleben aber am 1. Mai wieder, um eine Stelle in Tröchtelborn
anzutreten.
Die 1. Lehrerstelle wird dem Lehrer August Fetzer, bisher in Niedertopfstedt
tätig, übertragen.
Lehrer August Fetzer wirkt von 1935 bis zum Ende des 2. Weltkrieges in Wundersleben.
Namentliche Aufstellung aller Lehrer der Gemeinde Wundersleben bis 1945
1. Samuel Giepe 1667
2. Johann Georg Drößler 1686
3. Johann Christian Reinhard 1710
4. Siegmund Valentin Reinhard 1750
5. Christian Siegmund Reinhard 1782
6. Friedrich Reinhard 1808 - 1816
7. Gottlob Helfer 1816 - 1825
8. Heinrich Kämmerer 1825 - 1833
9. Johann Christoph Hoffmann 1833 - 1845
10. Gottfried Gebauer 1845 - 1848
11. Gottlob Messing 1848 - 1877
12. Louis F. H. A. Delle 1877 - 1886
13. Leonhard Hergt 1887 - 1888
14. Friedrich E. O. Carl 1888
15. Ludwig Rabes 1888 - 1895
16. H. Haupt 1895 - 1896
17. W. Siegling 1896 - 1904
18. Wilhelm Kilian 1904 - 1929
19. Willi Luttermann 1912 - 1914 (2. Lehrerstelle)
20. Bachmann 1916 - 1919 (2. Lehrerstelle)
21. Stange 1919 - 1929 (2. Lehrerstelle)
22. Paul Lehmann 1929 - 1935 (1. Lehrerstelle)
23. Richard Schulze 1929 - ? (2. Lehrerstelle)
24. Gerhard Weißleder 1935 (1. Lehrerstelle)
25. August Fetzer 1935 - 1945 (1. Lehrerstelle)
26. August Fetzer 1935 - 1945 (1. Lehrerstelle)
Die Schule und ihre Lehrer nach 1945
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Das sozialistische
Wundersleben Die Schule in Wundersleben wurde
wie das Dorf sozialistisch. Kinder gab es genug! In Wundersleben wurden
die Lehrer der alten Schule, wie z.B. Frau Weber, durch jünge
Neulehrer ersetzt. Die Folge allein für das Dorf Wundersleben
war enorm! Was früher ein einziger Lehrer schaffte, machte nun
ein ganzes Team. Namen wie Komnik, Leiting, Juknischke, Möser
seien hier kurz erwähnt.
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Das Leben
im Dorf vor 200 Jahren
In der Zeit von 1801 bis 1893 wurde Wundersleben von mehreren Brandkatastophen
heimgesucht.
Am 9. März 1801 brannte das Wohnhaus der Eheleute Engel nieder. Von den
beiden Kindern, die aus dem brennenden Haus
gerettet werden konnten, starb das eine an Rauchvergiftung.
Am 4. August 1823 brannte das Strohdach des zum Gasthof gehörenden Stalles
ab.
Am 16. Februar 1825 brach im Gehöft des Johann Christoph Taute Feuer
aus. Das Feuer griff über auf das Wohnhaus des Johann Christoph Schwarzenau
und legte
auch sämtliche Gebäude des Tobias Röhr sowie die Wirtschaftsgebäude
der Pfarre in Schutt und Asche.
Das Münchgesangsche Wohnhaus wurde teilweise beschädigt.
Am 12. März 1826 verbrannte die Scheune und das Wohnhaus des Johann Friedrich
Drößler. Das Feuer griff über auf die Wohn- und Wirtschaftsgebäude
des Friedrich Knauf
und Wilhelm Albrecht. Die Gemeindeschenke fing auch Feuer sowie die Häuser
zu beiden Seiten der Herrengasse.
Sämtliche Gebäude des Johann Heinrich Lompe und Leberecht Gottlob
Kannewurff wurden ein Raub der Flammen.
Das Feuer endete in der Herrengasse auf der einen Seite am Beizapfen, auf
der anderen Seite am Rittergut.
Am 14. Juni 1835 brach wieder Feuer im Dorfe aus.
Die Scheune des Johann Friedrich Knauf II und des Friedrich Ferdinand Schwarzenau
brannten nieder.
Am 12. September 1849 brannte die mit Getreide gefüllte Scheune und das
Wohnhaus der Witwe Rosina Maria Franke nieder.
Das Feuer griff über auf das Gehöft des Johann Georg Schrepper und
das Wohnhaus des Georg Christian Friedrich Wagner.
Am 1. April 1850 brach im Viehstall des Christian Siegmund Knauf Feuer aus.
Das gesamte Gehöft sowie die benachbarte Wohnung des Andreas Gottlob
Köthe wurden ein Raub der Flammen.
Am 18. Mai 1851 wurde die Scheune des Christian Ernst Gottfried Severin eingeäschert.
Am 21. April 1854 brach im Stallgebäude der Witwe Maria Christiane Schatz
Feuer aus. Am 24. April 1854 brach wieder ein Feuer aus.
Die Scheune des Christian Friedrich Knauff stand in Flammen.
Das Feuer griff über auf die Wohnhäuser, Scheunen und Stallungen
des Friedrich Knauf
des Wilhelm August Heinrich Bernecker,
der Witwe Maria Dorothea Schwarzenau,
des Friedrich Christoph Schulze,
des Johann Christian Stange,
des Johann Christian Quatuor und beschädigte auch das Wohnhaus des Johann
Friedrich Schwarzenau.
Am 25. September 1893 brannte ein mit Stroh bedeckter Schuppen des Gemeindedieners
Köthe nieder.
Das Feuer griff über auf die Scheune und den Schuppen des Leopold Knauf
und legte sie in Schutt und Asche.
In einer Zeit, in der die Dächer noch mit Stroh gedeckt waren und es
noch kein elektrisches Licht gab und auch die Feuerwehren noch nicht
so modern wie heute ausgerüstet waren, konnte leichtsinniger Umgang mit
Laternen und Feuer zu gewaltigen Katastrophen führen.
Pfarrer und Ortsschulze schließen in ihren Aufzeichnungen zu diesen
Ereignissen allerdings Brandstiftung nicht aus.
Man muß aber auch die Tatkraft und den Unternehmungsgeist der Menschen
bewundern, die in wenigen Jahren "was Feuers Wut ihnen geraubt hatte"
wieder aufgebaut hatten.
Haupterwerbszweig in Wundersleben war die Landwirtschaft. Dazu kamen noch
Spanndienste, Viehhandel und handwerkliche Tätigkeiten.
Die Dorfflur hatte 2563 Morgen, wovon dem Rittergute 722 Morgen, der Kirche
130 Morgen "Pfarrland" gehörten.
Die Flur wurde nach der seit Jahrhunderten üblichen "Dreifelderwirtschaft"
bewirtschaftet. Auf einem Drittel wurde Winterfrucht,
auf einem weiteren Drittel wurden Sommerfrüchte angebaut.
Das letzte Drittel blieb als Brache liegen. Die Brache musste zur "Hutweide"
liegen bleiben und durfte nicht "besömmert" werden. Das war
nur durch "Flurzwang" möglich.
Bestellen war erst ab 21. März erlaubt.
Die Brachäcker wurden im Mai "gebragt, im Juni "geruhrt"
und Anfang August "gevorruhrt. Ab 1. September durften die Stoppeläcker
"gefelgt" werden.
Bis dahin mussten sie zur Hutweide liegen bleiben. Vom 20. September bis 10.
Oktober konnte das Wintergetreide bestellt werden.
Nur in einem kleinen Teil der Flur konnte während der Brache besömmert
werden. Diese Felder lagen am Schenkwege und im "kleinen Feld".
"Felgen" nannte man das flache Pflügen der Stoppeläcker.
Es wurde nur so tief wie die Felge eines Rades gepflügt.
Welche Tätigkeiten sich hinter den Begriffen "bragen", "ruhren"
und "vorruhren" verbergen, ist leider in Vergessenheit geraten.
Diese Gesetze gelten in unserer Gemeinde bis 1826. Von dieser Zeit an wurden
diese Beschränkungen aufgeboben,
und zwar durch folgende Vorfälle:
Der Rittergutsbesitzer Dr. Rumpel fing an, mehrere seiner Brachäcker
mit Klee und Erbsen zu bestellen.
Daraufhin bestellten mehrere Ortsbewohner auch einen Teil ihrer Brachäcker
mit dergleichen Brachfrüchten. Umgekehrt wäre das undenkbar gewesen.
Hätte ein Dorfbewohner seine Brache bestellt, wäre der Gutsschäfer
gekommen und hätte rücksichtslos alles abgehütet.
Die "Besömmerung" der Brache wurde möglich, als sich in
der Zeit zwischen 1750 und 1770 der Kleeanbau, zwischen 1745 und 1800 der
Kartoffelanbau
und zwischen 1810 und 1830 der Zuckerrübenanbau in der Landwirtschaft
immer mehr durchsetzten.
Damit ging die Dreifelderwirtschaft allmählich in die Fruchtwechselwirtschaft
über. Dadurch konnten mehr Futterfrüchte angebaut werden,
dadurch auch mehr Vieh im Stall gehalten werden, es wurde mehr Dünger
gewonnen und dadurch wurden bessere Ernten möglich.
Alles in allem brachte diese Umstellung viele Vorteile und führte auch
zu etwas mehr Wohlstand.
Die Anspänner hatten das Recht, als Gegenleistung für die geleisteten
Frondienste ihre Pferde auf dem oberen und dem unteren "Nachtfleck"
sowohl bei Tage als auch in der Nacht weiden zu lassen. Diese Riethflecken
wurden im Frühjahr "abgehögt" (eingezäunt) und sobald
das Gras groß genug war,
dann wurden die Pferde zuerst eine Zeitlang auf das untere Nachtfeck, sowohl
bei Tage als auch in der Nacht getrieben. War das untere Fleck abgeweidet,
wurden die Pferde wieder auf das obere Fleck gebracht. Waren die Flecken durch
die Pferde soweit abgeweidet, durften dann auch andere Vieharten darauf getrieben
werden.
Wer am Tage seine Pferde zur Arbeit brauchte, konnte dieselben freilich nicht
auf die Weide lassen.
Sobald er jedoch seine Geschäfte vollendet hatte, wurden die Pferde abgeschirrt
und auf das Nachtfleck gebracht. Am anderen Morgen, wenn sie wieder gebraucht
wurden,
wurden sie dort wieder abgeholt. Die Pferde des Rittergutes, welche keinerlei
Frondienste zu leisten hatten,
hatten allerdings das gleiche Recht, diese Flecken zu beweiden.
Nach der Riethseparation im Jahre 1823 wurden diese Rechte aufgeboben. (Separation
= Flurbereinigung)
Die Landstraße von Weißensee nach Erfurt war zu jener Zeit (1809)
wegen der unaufhörlichen Vorspanne ein großer Nahrungs- und Erwerbszweig
unseres Ortes.
Manche unserer damaligen Anspänner spannten täglich und dabei öfter
am Tag vor,
so dass mehrere derselben dadurch eine jährliche Einnahme von 100 Talern
auf ein Pferd hatten. Als allerdings 1815 Wundersleben,
bisher zu Sachsen gehörend, zur preußischen Monarchie kam und 1819
zur Bewachung der Grenze ein Nebenzollamt lI. Klasse
mit zwei Grenzbeamten hier eingerichtet wurde, kam der bisher lebhafte Verkehr
zum Erliegen.
Damit fielen die Vorspanndienste weg und den Anspännern ging eine wichtige
Einnahmequelle verloren.
Auf Antrag des Rittergutsbesitzers Dr. Rumpel wurde im Jahre 1823 die "Riethseparation"
durchgeführt. Daraufhin wurde der Gemeinde als Eigentum zugeteilt:
1. das obere Nachtfleck und sämtliche Riethteile hinter dem Wehre und
oberhalb des Steindammes
2. das Heufleck
3. die Hochpeule
4. das kleine Nachtfleck
5. die Kannewurffs Weiden
6. die Stamminsel oder die Korbweiden und
7. den Mühlhof oder Mühlrasen.
Das Rittergut erhielt als Eigentum zugeteilt:
1. das Langentaler Rieth
2. das untere Nachtfleck nebst der Riethspitze und
3. ein Stück unterhalb des Steindammes.
Als Folge der Riethseparation fasste die Gemeinde 1824 den Beschluss, einen
Teil der Weidestücke, welche der Gemeinde zugefallen waren, zu verpachten.
Im März 1824 wurden deshalb das obere Nachtfleck ausgemessen und in halbe
Ackerstücke aufgeteilt und ausgesteinigt.
Es waren 86 halbe Acker davon gemacht worden und es wurden einem jeden Hause
davon ein halber Acker für 2 Taler 3 Groschen jährliches Pachtgeld
auf 9 Jahre belassen.
Die Gemeinde erzielte dadurch eine jährliche Einnahme von 180 Taler 18
Groschen.
Nach Ablauf der Pachtjahre wurden die Länder abermals auf 6 Jahre in
Pacht gegeben, jedoch nur mit 1 Taler 15 Groschen Pachtgeld pro halben Acker.
Später wurden diese Ländereien an die Meistbietenden verpachtet.
Im Jahre 1844 wurden das Gemeinde-Brauhaus sowie das Darrhaus
abgerissen.
Beide Gemeindehäuser hatten mehrere Jahre nutzlos dagestanden und waren
baufällig geworden.
Mit dem noch brauchbaren Material wurden andere Gemeinde-Häuser ausgebessert.
Im Jahre 1855 musste auch unser altes Gemeinde-Backhaus wegen seiner Baufälligkeit
abgerissen
und an dessen Stelle ein neues Backhaus aufgebaut werden.
Der Bau wurde durch den Bau- und Zimmermeister Andreas Koch ausgeführt.
Im Jahre 1854 wurde bereits ein neues Hirtenhaus gebaut.
Im Jahre 1856 wurde in Wundersleben die "Spezial-Separation" in
der Flur und Feldmark durchgeführt. Da man mit der Riethseparation schon
Erfahrungen gesammelt hatte,
waren mehrere Landbesitzer mit dieser Maßnahme nicht einverstanden.
Es fanden drei Versammlungen statt,
welche sehr stürmisch abliefen.
Am Ende wurde aber die Separation beschlossen und es wurden vier "Deputierte"
gewählt. Als erster wurde der Ortsschulze einstimmig als erster Deputierter
gewählt.
Als weitere Deputierte wurden gewählt:
Friedrich Christian Schulze
Johann Friedrich Knauff und der Schenkwirt
Friedrich Siegmund Knauff.
Schulze Lompe wurde auch zum Separationskassen-Einnehmer gewählt.
Nach der Vermessung der Flur erfolgte die Bonitierung der
einzelnen Flurstücke.
Das Jahr 1857 brachte auf Grund der schlechten Witterung eine dürftige
Ernte ein, die kaum den Samen wieder lieferte. Erst ab Oktober 1858 erhielten
die Landbesitzer
ihre neuen Flächen zugewiesen. Bis dahin hatte niemand gepflügt,
gedüngt oder bestellt. Ab 1. Oktober fingen zunächst die Düngerfuhren
an.
Später wurde dann noch Winterfrucht bestellt. Auf Grund der offenen Witterung
konnte bis kurz vor Weihnachten bestellt werden.
Die Separation, die ja auch eine Menge Geld kostete, brachte viel Ärger
und Verdruss sowie Unfrieden und Zwietracht in unser Dorf.
Manche waren der Meinung, daß ihnen für ihr gutes Land in Dorfnähe
weniger gutes im weiten Feld zugeteilt worden wäre.
Es wurde viel gestritten und besonders die Deputierten wurden auf gröbliche
Weise beleidigt. Der Unfrieden ging bis in einzelne Familien hinein.
Es kam zu Prozessen und es mußten sogar Geldstrafen verhängt werden.
Ein Landbesitzer weigerte sich strikt, das ihm zugewiesene Landstück
anzunehmen
und ließ es unbearbeitet liegen.
Auch Schulze Lompe wurde mit Vorwürfen, Beschuldigungen und Beleidigungen
überhäuft. Man ging sogar so weit, ihm seine Ernten zu verwüsten.
Das Landratsamt musste einschreiten und verfügte, daß die Schäden
aus der Gemeindekasse beglichen werden mussten.
Die Kirche besaß vor der Separation an Pfarrland:
Im Oberfeld 30 Parzellen; zusammen 42 1/4 Acker
Im Mittelfeld 28 Parzellen; zusammen 43 1/4 Acker
Im Niederfeld 32 Parzellen; zusammen 53 7/8 Acker
insgesamt 135 3/8 Acker
Die Kirche erhielt durch die Separation 3 Pläne Pfarrland zugeteilt.
1. Plan: Am Tunzenhäuser Wege 51 Morgen 116 Quadratruten
2. Plan: Im Rieth am Steindamm 22 Morgen 5 Quadratruten
3. Plan: Am nördlichen
Bergabhang des Langentales 52 Morgen 84 Quadratruten
zusammen: 126 Morgen 20 Quadratruten
ca. 32,2 ha
Die Schule besaß vor der Separation
Im Oberfeld 7 Parzellen; zusammen 5 3/4 Acker
im Mittelfeld 6 Parzellen; zusammen 5 1/4 Acker
Im Niederfeld 5 Parzellen; zusammen 5 Acker
insgesamt 16 Acker
Die Schule erhielt 2 Pläne zugeteilt.
1. Plan: lm Niederfelde an
der Weißenseer Straße Plan Nr. 173 1 ha 74 a 89 qm
2. Plan: Am Steindamm,
genannt das Pfarr-Rieth Plan Nr. 476 2 ha 4 a 83 qm
zusammen 3 ha 79 a 72 qm
Auch die Schule war mit der Landzuweisung nicht einverstanden. Für den
Lehrer bedeutete sie eine spürbare Gehaltseinbuße.
Der Lehrer und Cantor Meßing schrieb deshalb einen 3 Seiten langen Petitionsbrief
an den Königlichen Ökonomie Commissarius Herrn Maaß,
Wohlgeboren zu Weißensee und legte seine Bedenken und Bitten dar und
bat untertänigst um eine für die Schule günstigere Lösung.
-
Leider aber ohne Erfolg.
Im Jahre 1863 hatte Wundersleben 586 Einwohner.
Nach der Tabelle der Handwerker und Gewerbetreibenden gab es in Wundersleben:
2 Bäckermeister
1 Fleischermeister
1 Maurergeselle
3 Zimmergesellen
2 Mühlenbauergehilfen
1 Stellmachermeister mit 1 Lehrling
2 Hufschmiedemeister mit 1 Geselle und 1 Lehrling
1 Schuhmachermeister und 3 Schuhmachergesellen
1 Sattlermeister
1 Tischlermeister
3 Korbwarenmacher
Die Feldmark Wundersleben hatte 2.563 Morgen, davon 2.362 Morgen Ackerland,
192 Morgen Wiesen, 9 Morgen Gärten und Obstplantagen.
Der Viehbestand bestand aus:
45 Pferden
226 Stück Rindvieh
1.030 Stück Schafen
160 Stück Schweinen über 6 Monate alt
47 Stück Ferkel unter 6 Monate alt
15 Stück Ziegenböcken und
154 Stück Ziegen
In der Wunderslebener Flur wurden hauptsächlich Roggen, Weizen, Gerste
und Hafer angebaut. Roggen und Weizen brachten in Mitteljahren
10-fachen Ertrag, in schlechten Jahren 6-fachen Ertrag. Gerste lieferte in
Mitteljahren 12-fachen Ertrag, in schlechten Jahren 8-9-fachen Ertrag.
Hafer lieferte durchschnittlich 7-8-fachen Ertrag.
Erbsen wurden als Hauptbesömmerungsfrucht angebaut, aber auch Hirse und
Linsen. Kartoffeln wurden nur im mäßigen Umfang angebaut.
Dazu kamen noch Klee und andere Futterkräuter sowie Gartengewächse,
Kanariensamen und Hanf.
An Ölfrüchten wurden Winter- und Sommerrübsen, Mohn, Senf,
Dotter und Lein angebaut.
Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten jener Zeit sind uns auch in zahlreichen
"Bauernregeln" überliefert.
In einem sogenannten "Hundertjährigen Haus- und Volkskalender"
aus dem Jahre 1921 habe ich die folgenden Bauernregeln gefunden:
1. Januar muß vor Kälte knacken, wenn die Ernte recht soll
sacken.
2. An Lichtmeß (2. Februar) ist die Hälfte der Zeit für
die Winterfütterung herum.
3. Mariä Lichtmeß: Spinnen vergeß und bei Tag zu Nacht
eß.
4. Lichtmeß im Klee, Ostern im Schnee.
5. Wenn die wilden Rosen blühen, ist es Zeit zur Erbsensaat; Hafer
säe auf die Felder, wenn die Buchen Blüten hat.
Wenn die Eichenknospe bricht, dann vergiß die
Gerste nicht.
6. Legst die Kartoffel im April, kommt sie wann sie will; legst sie
im Mai, kommt sie gleich.
7. Donnerts im Märzen, so schneits im Mai.
8. Gertraud (17. März) den Garten baut.
9. Willst Gerste, Erbsen, Zwiebeln dick, so säe sie an St. Benedik
(21. März)
10.Blüht die Eiche vor der Esche, hält der Sommer seine Wäsche;
blüht die Esche vor der Eiche, hält der Sommer seine Bleiche.
11.An St. Ezechiel (10. April) den 100. Tag nach Neujahr, säe Leinsamen,
so gedeiht er wunderbar.
12.Der Mai kühl, der Juni naß, füllen Scheune und Faß.
13.Um Philipp und Jakobi (1. Mai) sind die größten Wetter und gedeihen
die besten Linsen
14.Pankrezi, Servazi, Bonifazi sind drei frostige Heilige, und zum Schluß
fehlt nie die kalte Sophie (12. bis 15. Mai)
15.An Urbani säe Flachs und Hanf (25. Mai)
16.Medard (8. Juni) bringt keinen Frost mehr her, der dem Weinstock schädlich
wär.
17.Bring die Sichel mit Barnabas (11. Juni), hast längsten Tag und längstes
Gras.
18.Vor Johanni (24. Juni) bet um Regen, nachher kommt er ungebeten.
19.Regnets am Siebenschläfertag (27. Juni), ist es 7 Wochen lang Regentag.
20.An St. Kilian (8. Juli) säe Wicken und Rüben an.
21.Helle warme Jakobi (25. Juli) - kalte Weihnachten.
22.Bartholomä (24. August) voll Sonnenglut, macht Wein und Reben stark
und gut.
23.Weizen schneid, wenn er gülden; Spelz, wenn er grün; Roggen,
wenn er weiß ist.
24.Wie der Hirsch an St. Egidi (1. Sept.) in die Brunft geht, so tritt er
an Michaelis wieder heraus (29. Sept.)
25.Willst du Korn im Überfluß. säe es an Egidius.
26.St. Gallen (16. Okt.) läßt Schnee fallen, treibt die Kuh in
den Stall und den Apfel in den Sack.
27.St. Martin (11. Nov.) - Feuer im Kamin.
28.Auf Barbara (4. Dez.) die Sonne weicht, auf Luzian (7. Jan.) sie wieder
herschleicht.
Zusammengestellt nach der
"Chronika der Gemeinde Wundersleben"
angelegt von J. G. Chr. Lompe im Jahre 1853
"Historisch - statistisch - topographische Beschreibung des Weißensee
r Kreises"
von F. B. Freih. von Haphe; Weißensee 1833
"Grundbuch der Gemeinde Wundersleben"
angelegt von J. G. Chr. Lompe im Jahre 1842
"Hundertjähriger Haus- und Volkskalender"
Lahr im Jahr 1921
Ankunft der Pandora
Ein Roman von Kerstin Jentzsch ©
( Newcomerin mit
Erfolg!)
Der 17. Juni in Sömmerda
13 649 Tage vor der deutschen Vereinigung
Am späten Donnerstagabend des einundzwanzigsten Mai neunzehnhundertdreiundfünfzig
traf Lucie Meerbusch mit ihren Kindern Willi,
Ernst und Elfie in Sömmerda ein. Alle waren sie übermüdet von
der langen Reise nach Thüringen. Die Linden in der Bahnhofstraße
verströmten frühlingshaften Duft.
Beim Sägewerk wußte Lucie nicht mehr weiter. Sie fragte sich zur
Schneiderei Mertin durch.
Clara Mertin bewohnte in der Schillerstraße das Erdgeschoß eines
wuchtigen Eckhauses. Die Meerbuschs liefen halb um das Haus herum über
einen kleinen Hof zum Eingang.
Lucie und Clara umarmten sich und weinten vor Rührung. Die Biesenthaler
Freundinnen hatten sich dreizehn Jahre lang nicht gesehen.
Elfie und Ernst entdeckten im Korridor eine schwarzweiß gefleckte Katze
und versuchten sie zu fangen. Sie rannten hinter dem flüchtenden Tier
her,
das hinter der einzig offenen der sechs Türen, die vom Korridor abgingen,
verschwand. Lucie rief ihre Kinder zur Ordnung.
Clara lächelte nachsichtig und führte Lucie und Willi in eine geräumige
Küche. Aus dem Ofen zog sie ein ganzes Blech Hefekuchen heraus.
Er war noch warm, seine hellbraunen Ränder erhoben sich über die
Blechkante, dicke goldgelbe Butterstreusel überzogen das Viereck.
Die Küche duftete. Clara begann den Kuchen aufzuschneiden. Die Stücke
schichtete sie auf einen großen Teller. Ernst und Elfie liefen
mit den heißen Stücken in ein Zimmer, wo sechs Nähmaschinen
standen. Dort spielte die Katze mit Stoffresten.
Lucie packte ihre Reisetasche aus.
"Um Himmels willen!" rief sie. "Das Huhn hat mir die ganzen
Sachen vollgesuppt!" Sie legte ein frisch geschlachtetes Huhn, das in
mehrere Geschirrtücher eingewickelt war,
in das Abwaschbecken.
"Halb so schlimm", fand Clara und bot der Freundin an, sich etwas
von ihren Sachen zu borgen. Nachdem sie das Huhn im Waschbecken gesäubert
hatte, legte sie es in ein Kühlfach,
über dem ein dicker Eisblock tropfte.
Lucie stellte das Paket Bohnenkaffee auf den Küchentisch. Clara schlug
die Hände über dem Kopf zusammen.
"Wo hast du denn den her?" flüsterte sie.
"Einen schönen Gruß von Hedwig", sagte Lucie und legte
einen Stapel der westdeutschen Illustrierten "Stern" dazu.
"Hier ist noch eine Kostbarkeit für deinen Rudolf", sagte sie
und zog eine Flasche Whisky sowie eine Stange Lucky Strike aus dem Gepäck.
"Ach, die Hedwig ...", Clara sah sich für ein paar Augenblicke
im Strandbad am Wukensee, wo sie mit Lucie und Hedwig die Sommer ihrer Mädchenjahre
verbracht hatte.
"Wie geht es ihr denn, der Hedwig?"
Lucie hob die Schultern. "Sie hat eine große Wohnung in Westberlin
am Savignyplatz. Und eine Menge reicher Kundinnen. Willi, erzähl doch!
Du fährst doch in den Ferien immer zu deiner Patentante."
Willi beschrieb Hedwigs große Wohnung mit dem glasüberdachten Atelier,
den Schneiderpuppen, Stoffen und dem Grammophon,
wobei er seinen Blick nicht vom Streuselkuchen lösen konnte. Clara brühte
eine Kanne Bohnenkaffee auf.
"Wo sind denn deine Kinder?" fragte Lucie.
"Die schlafen schon", antwortete Clara. "Und ich glaube, daß
deine drei auch ganz schön müde sein müssen von der Reise."
Ein geschlossenes Nein klang über den Flur. "Seid nicht so laut,
sonst wachen die Kinder auf", mahnte Clara.
"Deine Kinder müßten ja auch schon so um die zehn sein",
vermutete Lucie.
"Edgar ist zehn", sagte Clara, "und Stephanie, die Große,
ist zwölf. Ich habe euch das Gästezimmer fertig gemacht. Tagsüber
wird es sicher eng.
Wenn die Kunden kommen, müßt ihr halt in die Küche. Für
die ein, zwei Wochen wird es schon gehen, bis ihr etwas Eigenes gefunden habt."
Clara nahm Kaffeegeschirr aus dem Küchenbüfett.
"Und dein Mann?" fragte Lucie kauend. "Arbeitet er noch bei
der Rheinmetall?"
Clara schaute zur Wanduhr über dem Büfett. "Ja. Rudolf müßte
in einer halben Stunde von der Spätschicht kommen, wenn er nicht wieder
mit seinen Kollegen in die Börse geht."
"Trinkt er?" fragte Lucie besorgt.
"Himmel bewahre", widersprach Clara. "Aber ich habe das ungute
Gefühl, es liegt was in der Luft. Weißt du, die Erhöhung der
Arbeitsnormen hat nicht eben Jubel ausgelöst in der Belegschaft. Ich
habe Angst um Rudolf und meine Familie."
Willi langte nach dem dritten Stück Kuchen. Lucie wollte ihn daran hindern,
doch Clara erlaubte es ihm. "Ihr dürft aber nicht denken, daß
es bei uns jeden Tag Kuchen gibt."
Enttäuscht zogen die Kinder einen Flunsch.
"Wir leben in einer schwierigen Zeit", sagte Lucie. "Der Grotewohl
hat im letzten Jahr auf dem Bauerntag noch fest versprochen,
daß es bei uns keine Kolchosen geben wird. Und wie sieht es heute aus?
Monatelang haben die Abschnittsbevollmächtigten Lautsprecher
auf unser Gehöft gerichtet, sie spielten den Tag und manchmal sogar in
der Nacht noch Parteilieder und Reden und brüllten Parolen,
daß man ganz wirr im Kopf wurde."
"Nicht mal mit Watte in den Ohren konnten wir einschlafen", entrüstete
sich Willi.
"Am Anfang hat Herbert niemanden auf den Hof gelassen. Erst die Aufregung
mit seiner Rückkehr, und dann dieser Schock,
daß sie uns unser Land wieder wegnehmen wollten." Nachdenklich
rührte Lucie in der Kaffeetasse.
"Brüder zur Sonne, zur Freiheit...", begann Ernst zu singen.
Lucie klapste ihm auf den Mund.
"Lautsprecherwagen agitieren auch hier in den Dörfern", berichtete
Clara. "Selbst mich haben sie beschimpft und beleidigt, wenn ich einkaufen
gegangen bin.
Öffentlich haben sie mich als Ausbeuter hingestellt. Durch den Lautsprecher,
stell dir mal vor!"
Lucie schüttelte den Kopf. "Der Ulbricht macht es sich zu leicht,
wenn er behauptet, daß das, was gestern noch richtig war,
heute überholt und unrichtig sein soll."
"Diese Selbstherrlichkeit", schimpfte Clara leise.
"Dummheit ist das", widersprach Lucie flüsternd.
"Nicht vor den Kindern", mahnte Clara.
Lucie brachte ihre protestierenden Kinder ins Gästezimmer. Sie steckte
sie zu dritt ins Doppelbett. Für sich richtete sie das Sofa her.
Bevor sie das Licht löschte, sagte sie: "Und daß mir keiner
von euch anderen Leuten erzählt, was Clara und ich hier geredet haben!"
Sie gab jedem einen Kuß und lehnte die Tür an.
Clara hatte das Geschirr der Kinder in den Abwasch gestellt. Sie goß
Lucie und sich noch einmal Kaffee ein und tippte gedankenverloren mit dem
rechten Zeigefinger
auf die Kuchenkrümel, die sie in der hohlen Linken sammelte. "Tja,
die Hedwig", sagte sie. "Ihr Mann ist wohl im Krieg geblieben."
"Vielleicht ist das besser so", sagte Lucie. "Es bleibt ihr
eine große Enttäuschung erspart." Sie begann zu schluchzen.
"Fast zehn Jahre habe ich auf Herbert gewartet, und dann dieses Scheitern,
erst unsere Ehe, dann die gewaltsame Enteignung.
Wir mußten aufgeben, sonst hätten die uns den Prozeß wegen
Nichterfüllung unseres Solls gemacht, und das hätte Gefängnis
bedeutet."
"Rudolf haben sie hier in der Rheinmetall als Ingenieur gebraucht",
sagte Clara. "Ich kann mir deine Situation eigentlich gar nicht vorstellen.
Ohne Rudolf wüßte ich nicht, was ich gemacht hätte."
"Die Sauferei von Herbert war das Schlimmste", sagte Lucie und nippte
am lauwarmen Kaffee. "Wenn er trinkt, wird er richtig jähzornig.
Er reißt alle Schubladen auf, er schmeißt Geschirr durch die Gegend
und brüllt herum. Bis jetzt habe ich ihn entschuldigt.
Das macht der Krieg, die Gefangenschaft, habe ich mich und die Kinder immer
wieder getröstet.
Aber als er anfing, uns in seinem Jähzorn regelrecht zu verprügeln,
na, den Rest kennst du ja. Ich glaube, ich gehe nicht wieder zu ihm zurück."
Für Lucie waren die Ängste, die sie um sich und die Kinder ausgestanden
hatte, noch gegenwärtig.
Niemanden konnte sie um Hilfe bitten; ihr Mann hatte alle Nachbarn und Freunde
vergrault.
Und auf den Ämtern in Biesenthal hätte man sie nur schadenfroh ausgelacht.
Sogar Manfred Kronbecher hatte sich rar gemacht.
Unruhig blickte Clara zur Wanduhr. "Wir hatten unser Auskommen",
sagte sie gedankenvoll. "Rudolf hatte seinen Beruf in der Rheinmetall,
ich die Schneiderei. Aber was wird jetzt, nachdem plötzlich die Steuern
erhöht wurden? Stell dir vor, dreißigtausend Mark muß ich
nachzahlen.
Die haben das einfach so festgesetzt! Ich weiß nicht, wie ich das machen
soll!"
"Für den Hof in Biesenthal hatte die Abteilung Landwirtschaft im
Rat des Kreises einfach unser Plansoll erhöht", erzählte Lucie.
"Neunundvierzig Doppelzentner wollten die zuletzt pro Hektar. Im letzten
Jahr haben wir die fünfundvierzig kaum geschafft.
Niemand kann aus dem märkischen Sandboden noch mehr herausholen. Die
haben keine Ahnung von Landwirtschaft."
"Was aber am schlimmsten ist", Clara hing ihren Gedanken nach, "die
Sparkasse hat mir den Kredit gekündigt. Von einem Tag auf den anderen:
Steuerschuld und Kreditkündigung.
Ich bin bankrott. Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Gehälter
zahlen soll. Da beißt sich doch der Hund in den Schwanz."
Lucie schniefte. "Und was willst du dagegen tun?"
"Der Rat des Kreises hat mir angeboten, meinen Betrieb zu schließen
und in Erfurt das neue Kombinat mitaufzubauen.
Am besten, wir hauen in den Westen ab. Wie die vielen anderen, die rüber
sind. Noch kann man sich ja die Möbel nachschicken lassen.
Manchmal denke ich wirklich, daß Hedwig es klüger angegangen ist.
Aber sie mußte nicht fliehen, denn die Niebuhrstraße liegt ja
schon immer im Westteil von Berlin."
Zwei Männer betraten die Wohnung. Clara sprang auf und begrüßte
ihren Mann Rudolf, der sie in die Arme schloß.
Rudolf entschuldigte sich mit belegter Stimme für seine Verspätung
und stellte dann seinen Begleiter vor: "Das ist Klaus, unser neuer BGLer."
"Klaus Uhland, angenehm", er deutete vor Clara eine Verbeugung an,
die ihrerseits die beiden Männer mit Lucie bekannt machte.
Rudolf Mertin war ein asketischer Typ. Seine langen, weißen Finger umschlossen
Lucies kalte Hand. Der Händedruck war kräftig.
Über dem dunklen Vollbart blitzte eine runde Brille, wie wohl Liebknecht
eine getragen hatte. "Kannst Rudolf zu mir sagen."
Klaus Uhland hängte seine Ledermütze und die Joppe an den Kleiderständer
im Korridor. Schweren Schrittes kam er in die Küche.
Lucie musterte den breitschultrigen Mann. Er war Mitte Dreißig, doch
auf Stirn und Wangen hatte das Leben erste Falten gezeichnet.
Clara bot Kaffee an, doch die Männer wollten lieber Bier.
"Der Schneider ist heute nicht zur Arbeit gekommen", begann Rudolf
niedergeschlagen.
Seine feingliedrigen Finger strichen über das bärtige Kinn. "Abgeholt
worden ist er. Heute früh."
Clara bekam große Augen. "Der Parteisekretär der Rheinmetall?"
Klaus Uhland starrte auf das braune Glas seiner Bierflasche und nickte. "Letzte
Nacht sind sie gekommen, sagt Martha, seine Frau.
Er hatte gerade Zeit, sich was überzuziehen. Seine beiden Söhne
wissen noch nichts."
Claras Herz schlug so heftig, daß es weh tat. Sie war kreidebleich.
"Warum?" fragte sie fassungslos.
"Weil er das Maul aufgerissen hat", erwiderte Rudolf ungehalten.
"Er hat auf der Versammlung gesagt, was uns allen auf dem Herzen liegt:
daß er die Entscheidung der Partei nicht richtig findet, jetzt mit aller
Kraft eine Armee aus dem Boden stampfen zu wollen,
und daß sich das die DDR im Moment nicht leisten kann. Er hat eben gesagt,
daß die Normen zu hoch sind, daß zwar unsere Löhne steigen,
aber daß wir für unser Geld in den Geschäften nichts kaufen
können, und wie die Genossen da an der Basis Vertrauen in die Partei
bekommen
sollen, hat er gefragt."
"Da siehst du, wie schnell das gehen kann", sagte Clara, dem Weinen
nahe. "Bei dir werden sie ganz genau hinsehen, weil du mit einer Kapitalistin
verheiratet bist, verstehst du?"
Lucie meldete ihre Kinder in der Sömmerdaer Pestalozzischule an. Ernst
kam in die achte Klasse, Elfie in die siebente und Willi in die Klasse sechs.
Lucie übergab dem Direktor die Abschriften der Zensuren aus den Biesenthaler
Klassenbüchern. Clara hatte Elfie für später eine Lehrstelle
als Schneiderin angeboten.
"Wenn es meinen Betrieb dann noch gibt", hatte sie lakonisch hinzugefügt.
Willi wunderte sich, daß sein neuer Pionierleiter, der Achim hieß,
von den Maikäfern und seinem Ausschluß aus der Pionierorganisation
wußte.
Willi mußte vor der Klasse das Versprechen abgeben, mit aller Energie
zu lernen und jeden Tag als Wiedergutmachung des "Sabotageaktes"
eine Stunde gesellschaftlich-nützliche Arbeit zu leisten, die er sich
in einem Oktavheftchen bescheinigen lassen mußte.
"Wenn du dich bewährst", sicherte ihm Achim zu, "dann
werden wir dich wieder in unsere Reihen aufnehmen."
War Appell in der Schule, zog Lucie ihrem Sohn ein weißes Hemd an. Aber
Willi mußte dennoch in der letzten Reihe stehen, weil er kein Pioniertuch
trug.
Und das sollte niemand sehen.
Klaus Uhland, der sie jetzt öfter besuchte, redete ihr zu, daß
es für alle besser sei, wenn Willi wieder ein Pionier werden könnte.
"Wenn er Lust hat", schlug er vor, "kann er dienstags und donnerstags
in meiner Schularbeitsgemeinschaft Junge Techniker mitmachen."
Willi war begeistert, doch er dachte an das Versprechen, das ihm für
die AG keine Zeit lassen würde. Und er dachte an die Haushaltskasse,
die zu füllen er mithelfen wollte.
Nach den ersten beiden Wochen in Sömmerda schrieb Willi einen Brief an
Manfred Kronbecher nach Berlin:
"Lieber Manfred!
Wir haben uns gut bei Clara Mertin eingelebt. Ein eigenes Zuhause ist noch
nicht in Sicht.
Meine Mutter arbeitet in der Schneiderei mit, statt Miete. Ich versuche in
der Schule bessere Leistungen zu erbringen, aber ich habe in Geometrie wieder
eine Vier bekommen.
Aber das ist diesmal nicht so schlimm, denn ich bin der Beste beim Altstoffesammeln.
Außerdem bewähre ich mich in weiterer gesellschaftlich-nützlicher
Arbeit: Klaus Uhland, der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung in
der Rheinmetall,
hat mit dem Apotheker hier ausgemacht, daß ich Lindenblüten pflücken
und bei ihm abliefern kann. Der Apotheker gibt mir Geld dafür.
Aber das weiß Herr Uhland nicht. Ich gebe alles Geld meiner Mutter.
Für Frieden und Sozialismus bin ich immer bereit! Dein Willi."
Als er den Brief faltete und in den Umschlag steckte, plagte ihn das schlechte
Gewissen. Um schneller Geld zu verdienen, pflückte er nämlich die
Lindenblüten nicht nur, sondern fegte sie auch unter den Bäumen
zusammen. Auf dem Rasen im Hof breitete er die Blüten aus, um den Staub
herauszuklopfen. Dann mischte er die gepflückten mit den zusammengefegten,
etwas bräunlicheren Lindenblüten und brachte die Säcke in die
Apotheke. Der Apotheker hatte bis jetzt noch nichts gemerkt.
Bald eröffnete sich Willi eine neue Einnahmequelle: Kartoffelkäfer
sammeln. Einen Pfennig gab es pro Käfer.
Willi hoffte, den Schaden, den er mit Maikäfern angerichtet hatte, mit
Kartoffelkäfern wieder wettmachen zu können.
In der Sammelstelle holte er sich die Gläser mit Petroleum, die bei der
Ausgabe gewogen wurden.
Willi hatte seine ertragreichen Kartoffelkäferreviere hinter dem Bunkerberg,
kurz vor der Michelshöhe.
Sooft er konnte, lief er zu Klaus Uhland in die Schule, hetzte die Treppen
hinauf zum Dachboden, wo die AG Junge Techniker Paddelboote baute.
Der Geruch von Sägespänen und Lack kroch ihm in die Nase. Holzstaub
schwebte im einfallenden Sonnenlicht.
Das Modell des Bootes stand auf dem Fensterbrett. Der Kiel des ersten Bootes
war fertig. Ein Junge schliff die Spanten mit Sandpapier,
ehe er sie in den Kiel einpaßte.
"Nächste Woche werden die Spanten mit Leinen bespannt", erklärte
ein Junge aus der Fünften und rückte sein rotes Halstuch zurecht.
"Klaus hat den Teer schon bestellt, in dem wir den Stoff tränken."
Ein Ballen groben Leinens lag in der Ecke.
"Na, Willi, willst du doch mitmachen bei uns?" fragte Klaus Uhland.
Einige Jungen protestierten: "Der darf nicht mitmachen! Der ist kein
Pionier!"
Doch der Arbeitsgemeinschaftsleiter sagte: "Ihr müßt Willi
eine Chance geben. Er ist handwerklich geschickt und hat das Zeug zu einem
guten Tischler."
Lucie und Clara hielten im Empfangszimmer ihre Ohren dicht an das Radio; sie
hatten es ganz leise eingestellt. Die Achtzehn-Uhr-Nachrichten der Deutschen
Welle am sechzehnten Juni dreiundfünfzig regten die beiden Frauen noch
mehr auf als die an den Abenden zuvor.
Von einem Aufstand der Berliner Bauarbeiter war die Rede. Es hieß, sie
seien vor das Haus der Ministerien gezogen
und hätten ihrem Unmut über die allgemeine Normerhöhung Ausdruck
verliehen. In Sprechchören sei die administrative Politik der Partei-
und Staatsführung offen angegriffen worden.
Auch in anderen Werken der Sowjetischen Besatzungszone hätten die Beschäftigten
an den letzten beiden Tagen kurzzeitig die Arbeit niedergelegt,
so zum Beispiel bei der Fema in Roßwein, in Bad Bolitz in der Kugellagerfabrik,
in Leipzig, Gotha, Nordhausen. Mancherorts seien Forderungen nach dem Rücktritt
der Regierung laut geworden.
"Jetzt geht's los", flüsterte Clara. Sie schaltete das Radio
aus.
Lucie starrte vor sich hin. "Es ist schon losgegangen", sagte sie.
"Rudolf wird heute wieder später kommen", sagte Clara.
"Klaus Uhland auch", sagte Lucie kaum hörbar. Seine Gegenwart
war wohltuend für sie. Klaus Uhland hatte ihr letzte Woche eine rote
Rose aus seinem Garten mitgebracht.
Für den siebzehnten Juni neunzehnhundertdreiundfünfzig hatte Klaus
Uhland die Meerbuschs auf ein paar Tage in seinen Garten an der Unstrut eingeladen.
Mit zwei selbstgebastelten Paddelbooten wollten sie am nächsten Morgen
in aller Frühe an der Dreysemühle beim Stadtpark starten.
Lucie dachte jetzt öfter an eine Scheidung von Herbert. Auch wenn es
Klaus Uhland nicht gäbe, würde sie nie mehr zu Herbert zurückkehren.
Das stand fest.
"Daß er sich immer so nach vorn drängen muß", schimpfte
Clara. "Rudolf sollte an uns, seine Familie denken!"
Lucie hatte Angst um Klaus Uhland, der vielleicht auch eines Abends nicht
mehr wiederkommen könnte - wie der Parteisekretär.
Willi kam herein. "Ich habe alles gepackt für morgen", verkündete
er. "Der Wetterbericht hat Sonnenschein und dreiundzwanzig Grad gemeldet."
"Wenn euer Ausflug mal nicht ins Wasser fällt", entfuhr es
Clara. Willi mißverstand Claras Worte. "Ich hab doch eben gesagt,
morgen wird schönes Wetter."
Am selben Abend herrschte im Direktionszimmer der Rheinmetall Aufregung. Direktor
Kleebaum ordnete an, daß alle Abteilungsleiter so lange im Dienst zu
bleiben hätten,
bis am nächsten Tag die Frühschicht ordnungsgemäß angelaufen
sei. Er war erleichtert, daß sich die Versammlung der Belegschaft vor
dem Werktor langsam auflöste.
Doch er traute dem Frieden nicht. Er hielt den ganzen Abend telefonisch Kontakt
mit dem Rathaus und mit der Kreisparteileitung in der Bahnhofstraße.
Es war kurz nach sechs. Von der Rheinmetall kamen die ersten Schichtarbeiter
durch die Schillerstraße. Lucie und Clara konnten sie von der Werkstatt
aus sehen.
Jeden Abend liefen an die siebentausend Männer und Frauen nach Schichtende
am Haus vorbei zum Bahnhof, wo sie auf dem Hunderte Meter langen Bahnsteig
auf den Abendzug Richtung Erfurt, Kölleda und Sangerhausen warteten.
"Es liegt was in der Luft", sagte Lucie.
"Und unser Ausflug?" fragte Willi verstört.
Rudolf Mertin und Klaus Uhland waren mit etlichen Rheinmetallern in die Börse
gegangen. Dichtgedrängt standen die Männer in ihren grauen Arbeitsjacken
im Schankraum.
Einige mußten ihr Bier auf der Straße trinken.
"Wir müssen uns jetzt erheben", rief Rudolf in das Stimmengewirr
und hob die geballte Faust.
Rudolf Mertin stieg auf den runden Stammtisch und gebot den Kollegen Ruhe.
"So kommen wir nicht weiter. Wir müssen Ruhe bewahren."
"Wir waren viel zu lange ruhig", fuhr ihm einer über den Mund.
Zustimmung kam von allen Seiten.
"Ich meine", verschaffte sich Mertin wieder Gehör, "die
Zeit ist reif!" Die Rheinmetaller trommelten mit den Fäusten auf
die Tische.
"Wir lassen uns die Holzhammermethoden der Betriebsleitung nicht länger
gefallen!"
"Und die hohen Preise in der HO auch nicht!" rief einer wütend
dazwischen.
"Und wir sind nicht allein", beschwor Mertin die Rheinmetaller.
"Im ganzen Land herrscht Unruhe. Wenn wir jetzt schweigen, machen wir
uns unglaubwürdig.
Wir müssen uns mit den anderen solidarisieren!"
Klaus Uhland sprang zu Mertin auf den Tisch. "Ich rede jetzt als Gewerkschafter
zu euch", sagte er. Die plötzliche Ruhe irritierte ihn.
"Also. Ich verstehe euch und kenne eure Forderungen. Die sind gerechtfertigt.
Mehr arbeiten für effektiv weniger Geld, das ist nicht in Ordnung."
Unmut wurde laut.
Doch Uhland redete weiter: "Aber: Ich glaube nicht, daß ein Streik
der richtige Weg ist, denn ..." Er wurde niedergeschrien.
Um diese Zeit beendete der Bürgermeister im Ratssaal die außerordentliche
Sitzung der Ratsmitglieder. Der Sitzung wohnten außerdem der Kreisparteisekretär
und ein Hauptmann der Volkspolizei bei. Beraten worden war, wie die öffentliche
Ruhe und Ordnung in Sömmerda bei Ausschreitungen aufrechterhalten oder
rasch wiederhergestellt werden könnte.
Der Bürgermeister hatte von Notstand gesprochen und Stadträte, Polizei
und Parteisekretär in Alarmbereitschaft versetzt.
Wachmannschaften für das Rathaus waren ernannt worden, die sich alle
zwei Stunden ablösen sollten.
Im nahen Erfurt traf kurz nach sieben Uhr abends der D-Zug aus Berlin-Ostbahnhof
ein.
Eine neunzehnjährige Frau verharrte auf dem oberen Trittbrett des Waggons,
versuchte in der Menschenmenge den Mann zu entdecken, der sie abholen sollte.
Doch die Leute hinter ihr drängelten. Die Frau griff ihren Koffer und
kletterte die Stufen hinab. Der enge Rock war hinderlich.
Manfred Kronbecher, der am Zeitungskiosk gewartet hatte, entdeckte sie. "Eva!"
rief er.
Eva Schmiedinger ließ den Koffer stehen und lief Kronbecher in die Arme.
"Ich habe solche Angst gehabt um dich!"
Eva Schmiedinger gehörte zu den dreiundzwanzig Genossinnen, die Tag für
Tag in der Erfurter Zentrale der Staatssicherheit Tonbänder abschrieben,
auf denen Privattelefonate
von observierten Personen mitgeschnitten worden waren. Diese Abschriften per
Post nach Berlin zu schicken, war laut Dienstanweisung verboten.
Eva Schmiedinger hatte diese Woche mehr als tausendzweihundert Blatt Papier
nach Berlin geschafft.
Kronbecher trug ihren Koffer zum Dienstwagen, der vor dem Bahnhof parkte.
"Kannst du mir einen Gefallen tun?" fragte er wie beiläufig.
"Für dich, Liebster, tue ich alles. Das weißt du."
Über die Autobahn fuhren sie Richtung Eisenach bis zur Abfahrt Waltershausen.
Ihr Ziel war der kleine Ort Fischbach bei Eisenach.
Ein umgebautes Blockhaus, ehemals Wirtschaftsgebäude der Revierförsterei,
war konspirativer Treffpunkt der Staatssicherheit. Diese Nacht hatte Kronbecher
das Haus für sich
und Eva reserviert.
Im Sitzungssaal des Rathauses in Sömmerda brannte um Mitternacht noch
Licht. Auch einige Amtsstuben waren erleuchtet. Alle Stunden rief der Bürgermeister
im Rathaus an.
Obwohl ihm stets versichert wurde, daß alles in Ordnung sei, fand er
keine Ruhe. Ein Streifenwagen der Polizei fuhr über den Marktplatz vor
dem Rathaus und verschwand hinter
der Sankt-Bonifatius-Kirche.
Auch der Direktor der Rheinmetall konnte keinen Schlaf finden. Kleebaum war
nicht nach Hause gefahren.
Nachts um halb eins kam Rudolf aus der Börse. Sein Gesicht war erhitzt.
Clara umarmte ihn und sagte vorwurfsvoll: "So lange bist du noch nie
geblieben!"
"Es ging nicht anders", verteidigte er sich. "Die Börse
war gerammelt voll. Und Klaus Uhland hat so dummes Zeug gequatscht. Er hält
einen Streik nicht für nötig."
"Streik?" riefen Clara und Lucie entsetzt.
"Irgendwie müssen wir uns doch Gehör verschaffen", entgegnete
Rudolf aufgebracht.
"Auf harmlosere Aktionen reagiert doch keiner mehr von denen da oben.
Morgen wird gestreikt in der Rheinmetall."
"Ob das gutgeht?" zweifelte Clara. "Ich habe Angst um uns,
Rudolf!"
Am Morgen des siebzehnten Juni stritten sich Elfie und Ernst, wer zuerst ins
Badezimmer durfte.
Auch Claras Kinder, Edgar und Stefanie, drängelten. Lucie ging dazwischen.
"Laßt bitte den Ernst vor. Er hat heute Mathematikprüfung
in der Schule."
Die Kinder kabbelten sich auf dem Flur.
Pünktlich sechs Uhr dreißig kamen die fünf Schneiderinnen
in Claras Werkstatt und erzählten von der Stimmung der Arbeiter im Zug
aus Sangerhausen.
Clara hatte kaum geschlafen, ihre Augen waren gerötet.
Die Frauen erzählten aufgeregt von dem geplanten Streik in der Rheinmetall:
"Mein Mann ist heute sogar freiwillig aufgestanden."
"Ich habe kein gutes Gefühl. Ein sozialistischer Streik? Das geht
nicht gut. Irgendwann schreiten die Russen ein."
"Quatsch, das sind viel zu viele, die streiken werden, als daß
man die alle verhaften könnte."
"Sozialisten schießen nicht auf Sozialisten."
Lucie bügelte indes das FDJ-Hemd für Ernst, das er in der Prüfung
tragen mußte. Clara kochte in der Küche Kaffee für die Schneiderinnen.
Rudolf Mertin war schon vor sechs zur Rheinmetall gelaufen.
Zur selben Zeit verließen Manfred Kronbecher und Eva Schmiedinger das
Blockhaus in Fischbach. Sie hatte Kopfschmerzen.
Der Wodka wirkte nach. Im Auto war es noch kalt. Sie bibberte. Kronbecher
fuhr los. Nach Erfurt zum Bahnhof.
"Du hast mir immer noch nicht gesagt, was ich von den Unruhen halten
soll", begann Eva Schmiedinger.
"Ich kann mir die Unzufriedenheit der Leute nicht erklären. Die
Partei tut doch alles, damit es der Bevölkerung besser geht."
Kronbecher lachte. Er tätschelte ihr Knie und erläuterte: "Viele
von denen haben noch nicht begriffen, daß ein Arbeitskampf in Form von
Streik,
wie sie ihn jetzt anstreben, im Sozialismus nicht nötig ist. Außerdem
sind das schon konterrevolutionäre Aktionen, Eva."
Er knuffte sie in die Schulter und ermahnte sie: "Du sollst die Tonbänder
abschreiben und nicht auswendig lernen."
Sie überging die Äußerung mit einem Lächeln.
Vor dem Erfurter Bahnhof sagte er: "Also, die Sache mit dem Willi Meerbusch
geht klar?"
"Du hast mein Ehrenwort."
"Paß aber auf, daß er dich nicht bemerkt. Wenn du sein Umfeld
observierst, notiere alle Vorgänge, Namen und so weiter."
"Mensch, Manfred, ich mache das doch nicht zum ersten Mal, und der Bengel
ist ja noch ein Kind."
"Aus dem wird mal was ganz Großes, verlaß dich drauf."
Er küßte sie zum Abschied. "Das Zimmer im Hotel "Zum
Schwan" ist für dich reserviert. Also dann, Hals- und Beinbruch!
Wir sehen uns nächste Woche in Berlin."
Es war Viertel vor sieben.
Direktor Kleebaum rasierte sich im Vorraum der Toilette. Seine Sekretärin,
die er kurz zuvor zum Dienst beordert hatte, brühte starken Bohnenkaffee.
Das Telefon klingelte.
Der Bürgermeister wollte den Direktor sprechen. Die Sekretärin bat
um einen Moment Geduld,
lief über den Flur zur Herrentoilette.
"Schon wieder?" Kleebaum fluchte. "Ja, ja, ich komme gleich.
Oder sagen Sie ihm, die Lage ist unverändert, und ich rufe zurück."
Vor dem Werktor auf der Weißenseer Chaussee standen die Nachtschichtler
zusammen mit den Neuankömmlingen für die Tagschicht.
An die zweitausend Menschen waren vor dem Tor versammelt. Kleebaum wurde unwohl,
als er aus dem Fenster seines Zimmers auf die vielen Menschen
in ihren grauen Arbeitsjacken hinunterblickte. Die geschlossenen Fenster dämpften
das Stimmengewirr von draußen kaum.
Rudolf Mertin kletterte auf den Zaun und rief: "Wir solidarisieren uns
mit den Berliner Bauleuten!" Ohrenbetäubender Beifall war die Antwort.
Im Sekretariat warteten die Abteilungsleiter. Direktor Kleebaum ließ
sich von seiner Sekretärin mit dem Bürgermeister verbinden.
"Ja, Kleebaum hier. Was gibt es? ... Nun mach doch nicht die Pferde scheu,
verdammt noch mal!
Wir sind in Sömmerda und nicht in Berlin oder Leipzig ... Sie brüllen
da unten bis jetzt nur rum ... Nein, niemand geht an seine Arbeit ...
Ich werde alles tun ... Ja doch ... Ja, ich rufe dich an ... wenn die Schicht
begonnen hat."
Der Bürgermeister am anderen Ende der Leitung zog die Gardine beiseite.
Von seinem Amtszimmer aus konnte er den ganzen Marktplatz
überblicken. Ein Mann schob einen Handwagen mit einem Paddelboot über
den Markt, Richtung Dreysemühle. Den Mann kannte er.
Es war Klaus Uhland, der neue BGLer aus der Rheinmetall.
Klaus Uhland schwitzte. Die Fuhre war schwer. Er schob den Wagen mit der einen
Hand, mit der anderen hielt er das Boot im Gleichgewicht.
Er dachte daran, daß er ja noch das zweite Boot aus der Schule holen
mußte. Aber dabei würde ihm Willi helfen. Das war so abgemacht.
Das Wetter war ideal für den Garten. Die Kirschen waren schon hellrot,
die Erdbeeren und Himbeeren ebenso. Er freute sich darauf,
mit Lucie auf der Bank im Garten zu sitzen und einfach so zu faulenzen. Er
brauchte ein paar freie Tage.
Hinter der Sankt-Bonifatius-Kirche begegnete ihm Erwin. Der Brigadier vom
Werkfuhrpark schlug ihm auf die Schulter und fragte:
"Wo willst du denn hin? Wir sind alle am Werktor versammelt. Eine richtig
revolutionäre Stimmung ist da.
Deine Äußerung von gestern war übrigens schwach."
"Ich habe Urlaub", entgegnete Uhland entschieden.
"Das meinst du doch nicht im Ernst!" Der Brigadier zeigte ihm einen
Vogel. "Wie kann man an so einem Tag Urlaub machen?
Heute wird Geschichte geschrieben, mein Lieber!"
"Ein Streik ist doch absurd", versuchte Uhland den Brigadier umzustimmen.
"Auf wessen Seite stehst du als Gewerkschafter eigentlich, he?"
Er ließ Uhland stehen und eilte über den Markt, die Weißenseer
Straße entlang,
an der alten Stadtmauer vorbei zur Rheinmetall.
Fahrplanmäßig sieben Uhr fünfzehn setzte sich der Personenzug
von Erfurt über Sömmerda nach Sangerhausen in Bewegung.
Eva Schmiedinger hatte ein Abteil für sich. Sie dachte an die letzte
Nacht mit Kronbecher und nahm sich vor, ihm den "Gefallen" zu tun,
wie er den Auftrag zur Überwachung des Jungen nannte. Was hatte er nur
mit dem Kind vor? Egal, er sollte mit ihr vollkommen zufrieden sein.
Schließlich hatte er sie extra dafür von ihrer eigentlichen Arbeit
im Schreibbüro abgezogen.
Lucie war aufgeregter als Ernst, als der zu seiner Prüfung mußte.
"Hast du deinen Füller nachgefüllt? Hast du Taschentücher
eingesteckt?"
Ernst genoß es, Hauptperson zu sein. Lucie, Willi, Elfie, Clara, Edgar
und Stefanie wünschten ihm im Chor:
"Toi-toi-toi. Wir drücken dir die Daumen!"
Der neue Parteisekretär der Rheinmetall stürmte an der Sekretärin
vorbei ins Direktionszimmer. Kleebaum brüllte erbost ins Telefon:
"Ja, ich weiß, daß es Viertel acht ist, werter Genosse Bürgermeister!
Aber bei uns rührt sich nichts.
Die stehen alle vor dem Werk und lassen niemanden rein ... und niemanden raus!
Herrje, du hast doch keine Ahnung, was hier los ist! Das sind jetzt mindestens
fünftausend,
die sich zusammengerottet haben! Die haben Streikposten aufgestellt, halten
laufend Reden und grölen wild durcheinander, daß man hier drin
sein eigenes Wort kaum versteht!"
Er blickte wütend auf den Parteisekretär, der im Türrahmen
stehengeblieben war, hinter ihm die Sekretärin,
die hilfesuchend mit den Schultern zuckte. "Was ist denn vorm Rathaus
los?" fragte Kleebaum gereizt ins Telefon.
"Na, da sei froh. Ich fühle mich gar nicht wohl hier ... Ja, eben
weil wir in Sömmerda sind und nicht in Berlin oder Leipzig! ...
Ich mache keine Pferde scheu! Ich bin nur froh, daß noch nichts brennt,
so sieht die Sache hier aus." Er knallte den Hörer auf die Gabel.
"Was ist?" schnauzte er den neuen Parteisekretär an.
"Die SED-Kreisleitung hat eben angerufen", stammelte der Parteisekretär.
"Und was wollen die?"
"Wir sollen um jeden Preis die Schicht gewährleisten, sagen sie."
Kleebaum faßte sich an den schweißnassen Kopf. "Sollen wir
die Leute einzeln zu ihren Arbeitsplätzen tragen? Wie stellen die sich
das vor?"
Das Telefon schrillte erneut. Es war noch einmal der Bürgermeister. Kleebaum
hörte ihm zu, nickte ab und zu. Dann wich die Farbe aus seinem Gesicht.
Als er den Hörer auflegte, sagte er: "Aus Weißenfels wurde
eben gemeldet, daß die Leute das Gefängnistor mit einem Baumstamm
aufgebrochen haben. Sie haben es gestürmt
und alle Inhaftierten befreit."
Klaus Uhland traf gegen halb acht in der Schillerstraße ein. Willi wartete
schon ungeduldig auf ihn. Clara kam aus der Schneiderwerkstatt und bestürmte
ihn mit Fragen:
"Was ist draußen los? Hast du Rudolf gesehen? Wird gearbeitet in
der Rheinmetall?"
"Das ist doch alles Schwachsinn, was die da machen", meinte Uhland.
"So ein Kräftemessen bringt doch nichts.
Die Forderungen sind berechtigt, ja, aber mit Streik werden die sie nie durchsetzen."
Er legte seinen Arm um Willi.
"Wir holen jetzt das andere Boot aus der Schule."
Willi strahlte. Gemeinsam verließen sie kurz vor acht Uhr das Haus.
Zur selben Zeit traf Eva Schmiedinger in Sömmerda ein. Im Zug war es
von Station zu Station voller geworden. Die Aufregung der Menschen steckte
auch Eva an.
Kronbechers Worte von Konterrevolution und westlicher Hetze ermahnten sie
zur Wachsamkeit. In Gedanken protokollierte sie die einzelnen Äußerungen
der aufgeregten Fahrgäste.
Aber bald gab sie es auf, es waren zu viele. Eva Schmiedinger würde die
Stimmung in einem Lagebericht zusammenfassen.
Skeptisch beobachtete sie die Leute, die wie sie die Bahnhofstraße entlangliefen.
Was hatten die vor? Wer von ihnen könnte ein Saboteur sein? Doch das
herauszubekommen,
war nicht ihre Aufgabe. Sie mußte Willi Meerbusch finden.
Doch zuerst lief sie geradenwegs zum Hotel, um ihre Sachen unterzustellen.
Dann wollte sie in der Pestalozzischule vorbeischauen und sich nach dem Jungen
erkundigen.
Der Bürgermeister ließ sich mit dem Volkspolizeikreisamt in der
Bahnhofstraße verbinden.
Er gab seinen stündlichen Lagebericht durch: "Vor dem Rathaus ist
alles ruhig, Genosse Hauptmann. Vor einer halben Stunde ist der BGLer von
der Rheinmetall, Klaus Uhland,
mit einem Boot über den Marktplatz gelaufen. Sonst ist nichts passiert.
Wie sieht es denn in der Rheinmetall aus?"
"Ich habe strikten Befehl, das VPKA hier in der Bahnhofstraße zu
schützen. Über die Rheinmetall ist mir nichts Neues bekannt. Wir
warten auf Einsatzbefehle."
In der Schule lief der Direktor über die Flure. Er grüßte
nur kurz. Willi und Klaus Uhland stiegen zum Dachboden hinauf.
Sie wuchteten das Paddelboot hinunter und verursachten dabei einigen Lärm.
Niemand begegnete ihnen. Als sie das Boot auf dem Handwagen verschnürten,
klingelte es zur Pause.
"Nichts wie weg", sagte Willi übermütig. "Sonst sieht
mich noch meine Lehrerin." Er hielt das Boot in der Waagerechten, Klaus
schob den Handwagen.
Lucie und Elfie hatten den Proviant für den Ausflug in zwei Körben
verstaut und machten sich auf den Weg zum Marktplatz,
wo sie auf Uhland und Willi warten sollten.
Vor dem Werktor ging plötzlich alles sehr schnell. An die hundert Rheinmetaller
stürmten mit Rudolf Mertin an der Spitze in das Hauptgebäude.
Sie eilten die ausgetretenen Stufen hoch, den Flur entlang, rissen die Tür
zum Sekretariat auf und drängten in das angrenzende Direktionszimmer.
Kleebaum, der neue Parteisekretär und die Abteilungsleiter waren wie
versteinert. Eine lange Minute herrschte Schweigen.
Die Zeiger der Wanduhr standen auf drei Viertel neun.
Direktor Kleebaum räusperte sich. "Genossen", sagte er, "ihr
müßt Vertrauen in die Partei haben ..."
Er versuchte seiner Stimme einen überzeugenden Ton zu verleihen, aber
seine Worte gingen im Gelächter unter.
Der neue Parteisekretär mischte sich ein: "Was soll denn das werden?
Ein Streik?"
"Das ist der Streik", erwiderte Rudolf Mertin lauernd.
Kleebaum ging zum Fenster, um die Distanz zwischen ihm und den wütenden
Männern zu vergrößern. Sein Blick fiel auf die Rheinmetaller
am Haupttor, die laut durcheinanderredeten.
"Wir müssen miteinander reden", sagte er, unsicher geworden.
"Dieser Streik nutzt niemandem etwas. Wir wollen doch alle das Gleiche,
nämlich besser leben. Habe ich recht?" Unfreundliches Gemurmel.
"Aber wenn keiner arbeitet, dann entziehen wir uns selbst die Lebensgrundlage
..."
Der Direktor verstummte sofort, als Rudolf Mertin einen Schritt auf ihn zu
tat.
"Geredet und gearbeitet worden ist genug", der Ton in Mertins Stimme
wurde schärfer. "Aber verbessert hat sich nichts für uns. Die
Norm steigt, aber mehr kaufen können wir uns nicht. Wir werden ausgebeutet
wie im Kapitalismus! Das lassen wir uns nicht länger bieten!"
Die Männer hinter ihm klatschten und stampften mit den Füßen.
"Das ist kein Arbeiter-und-Bauern-Staat, das ist ein Funktionärsstaat!"
rief ein Arbeiter.
"Wir sind die herrschende Klasse und nicht eure Sklaven!" donnerte
Rudolf Mertin. Lauthals stimmten die anderen ihm zu.
"Aber, ich bitte euch, Genossen ...", weiter kam Kleebaum nicht.
Er gestikulierte aufgeregt und keuchte vor Anstrengung.
"Genossen!" preßte er hervor, die Tischkante umklammert. Nach
einigen Sekunden hatte er sich wieder in der Gewalt und rief:
"Es lebe die Große Sozialistische Oktoberrevolution! Es lebe die
Freundschaft mit der Sowjetunion. Es lebe Otto Grotewohl!"
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Alles hatten die Rheinmetaller im
Zimmer erwartet, aber keine Losungen. Sekunden später war es mit der
Autorität des Direktors vorbei.
Gemeinsam mit einigen Kollegen zerrte Rudolf ihn weg vom Tisch.
Auf dem Flur wurden die Abteilungsleiter durch das Spalier der pfeifenden
und johlenden Rheinmetaller in das Direktionszimmer geführt.
Von der anderen Seite schoben sich die sowjetischen Berater durch die aufgebrachte
Menge.
Rudolf und seine Kollegen rissen die Telefonkabel von der Wand und sperrten
Kleebaum, den Parteisekretär, die Berater und Abteilungsleiter ein.
Hinter der dick gepolsterten Tür mochten sie schreien, soviel sie wollten.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von der Gefangennahme in
der Belegschaft.
Die Sendungen des Westberliner RIAS dröhnten plötzlich aus den Lautsprechern
des Werkes über das ganze Gelände.
Weitere Betriebe wurden genannt, in denen die Werktätigen die Arbeit
niedergelegt hatten, vielerorts sollten sich Streikleitungen gebildet haben.
Die Aufzählung von Städten in Thüringen wurde vom Beifallssturm
der Rheinmetaller übertönt.
Als sie von der Besetzung des Gefängnisses in Weißenfels erfuhren,
ging ein Aufschrei durch die Menge. "Los, zur Polizei!"
Rudolf Mertin dachte an Schneider, den verhafteten Parteisekretär.
Die Rheinmetaller formierten sich zu einem Zug.
In der Pestalozzischule hasteten die Schüler mit ihren Schnittenpaketen
zur Hofpause, aber Lehrer und FDJler hielten die Ausgänge geschlossen.
Aufgeregt schrien die Schüler durcheinander, daß man sie auf den
Hof lassen sollte. "Die Rheinmetaller streiken!" Dieser Ruf eilte
von einem zum anderen. Die Schüler ließen sich nicht in die Klassenräume
zurückschicken. Einige, die von der Prüfung kamen, zogen die FDJ-Hemden
aus.
Geschrei gellte durch das Schulgebäude. Die Schüler überrannten
die Türposten und stürmten aus der Schule und liefen zur Rheinmetall.
Im Rathaus versuchte der Bürgermeister seit einer Viertelstunde vergeblich,
Kleebaum zu erreichen.
Auf dem Marktplatz hatten sich einige Männer und Frauen eingefunden.
Sie saßen im Schatten zweier Linden auf den Stufen,
die zum Rathaus führten, und unterhielten sich.
Vom Fenster des Hotelzimmers aus wurden sie von Eva Schmiedinger beobachtet.
Es waren Bauern aus der Umgebung von Sömmerda.
Sie begab sich hinunter und mischte sich unter die Bauern.
"Die Ernte hat noch nicht begonnen, und schon werden wir mit neuen Planzielen
befeuert", sagte ein kräftiger Mann.
Einer mit Gummistiefeln wollte es einfach wie im letzten Jahr machen: "Tauschen
wir untereinander unser Vieh und das Getreide aus,
bis jeder das Soll erreicht hat."
"Puchard in der Abteilung Landwirtschaft im Rathaus hat ja letztes Mal
mitgespielt", erinnerte sich ein älterer Mann, der Pfeife rauchte.
"Wie ich hinkam zu dem und beichten mußte, daß ich nicht
genug Doppelzentner Futterrüben abliefern kann, da hat er in sein Buch
geschaut
und mir gesagt, daß in der Nacht mein Nachbar kommt, mit einer Fuhre
Futterrüben."
"Dafür mußtest du ihm aber Schweinefleisch abtreten",
erinnerte sich der mit den Gummistiefeln.
"Der Puchard muß ja sein Plansoll auch erfüllen", wiegelte
eine mollige Frau unter ihnen ab. "Sonst kriegt der Ärger mit seinem
Chef im Bezirk.
Ich habe mich bei dem Puchard mit einer Gans zu Weihnachten bedankt."
"Du auch?" fragte der Pfeifenraucher und kicherte.
Lucie und Elfie trafen auf dem Marktplatz ein.
Einer der Bauern zeigte auf die Holztafel, die am Eingang des Rathauses an
zwei Pfähle genagelt war, und las: "Alles zum Wohle des Volkes!"
"Fragt sich nur, wer mit Volk gemeint ist", meinte die Mollige zynisch.
Der Pfeifenraucher posaunte hinauf zum Fenster des Bürgermeisters: "In
einer Kolchose jedenfalls würde ich mich nicht wohl fühlen."
Er lief zu seinem weißen Dreiradlaster, der mitten auf dem Marktplatz
stand, und holte einen Fünfliterkanister von der Ladefläche.
Von der unteren Weißenseer Straße drangen die Rufe der Rheinmetaller
zum Rathaus. Eva Schmiedinger traute ihren Augen kaum,
als der Bauer Benzin an die Holztafel spritzte und mit Streichhölzern
anzündete. Puffend explodierte das Benzin, die Flammen schwärzten
das Holz.
Der Zug der Rheinmetaller schob sich langsam durch die Weißenseer Straße.
Die brennende Holztafel wurde von den Demonstranten beklatscht
und bejubelt. Als der Demonstrationszug in den Marktplatz einbog, traf er
auf Willi und Klaus Uhland, die dort den Handwagen mit dem Paddelboot zogen.
Lucie stieß einen Schrei aus, als sie sie an der Spitze des Zuges mit
dem Paddelboot erblickte. Die Rheinmetaller schoben die beiden vor sich her.
Rudolf lief neben Klaus.
Schnell füllten die Menschen den Marktplatz. Eva Schmiedinger hatte Willi
in der Menge entdeckt. Sie achtete darauf, in seiner Nähe zu bleiben.
Zuerst war alles ganz ruhig. Die Rheinmetaller musterten sich gegenseitig,
wie sie in ihren grauen Arbeitsanzügen in dieser ungewohnten Umgebung
standen.
So viele Menschen waren hier auf dem Markt seit neunzehnhundertachtundvierzig,
als man Charlie-Chaplin-Filme an die Rathauswand projizierte, nicht mehr zusammengekommen.
Dann wurden die ersten Rufe nach dem Bürgermeister laut. Rudolf Mertin
schlug sich zum Rathaus durch. Er traf den Bürgermeister in seinem Amtszimmer,
den Kopf in die Hände gestützt, das verschwitzte Haar an den Schläfen
klebend, das Hemd aufgeknöpft, den Krawattenknoten heruntergeschoben.
Der Bürgermeister blickte Rudolf Mertin flehend an. "So tu doch
etwas!"
Die Holztafel brannte lichterloh, der Rauch zog durch das offene Fenster in
die Amtsstube, Ruß legte sich auf die Papiere.
Die Rufe nach dem Bürgermeister wurden immer lauter und energischer.
"Oder sollen wir dich holen?" brüllten einige.
Rudolf Mertin sagte: "Sie müssen raus und reden."
Der Bürgermeister weigerte sich verzweifelt. "Die zerreißen
mich!"
Rudolf schaute aus dem Fenster. Es war schon beeindruckend, wie die Menschen
den Marktplatz bis rüber zum Kaufhaus füllten.
Vor der Kirche erkannte er Klaus und Lucie mit Willi und Elfie, die mit ihren
Körpern das Paddelboot im Gedränge schützten.
Aus der Seitenstraße kamen die Schulkinder zum Marktplatz. Einige trugen
noch das blaue FDJ-Hemd. Auch Ernst war dabei. Sein FDJ-Hemd hatte er ausgezogen.
Die Holztafel fiel funkensprühend in sich zusammen. Das löste einen
Beifallssturm aus. Rudolf Mertin dachte dasselbe wie der Bürgermeister:
Hoffentlich wird das Rathaus nicht angezündet. Er beugte sich aus dem
Fenster und rief: "Kollegen! Wir müssen besonnen bleiben! Provoziert
nicht! Bleibt ruhig!"
Seine Worte gingen unter. "Wo ist der Bürgermeister? Wir wollen
den Bürgermeister sehen!" Ein paar Männer drangen ins Rathaus
ein.
Sie zerrten den Bürgermeister die Stufen hinunter. Er wurde mehr gestoßen,
als daß er lief. Die Rheinmetaller bildeten einen Korridor wie bei einem
Spießrutenlauf.
Sie hoben den Bürgermeister auf den weißen Dreiradlaster. Rudolf
Mertin drückte ihm ein Megaphon in die Hand.
Ernst Meerbusch drängelte sich durch die Rheinmetaller. An der Kirche
entdeckte er seine Mutter und die Geschwister.
Mühsam arbeitete er sich zu ihnen durch.
Der Bürgermeister hielt das Megaphon vor seinen Mund. Er räusperte
sich, fand keine Worte.
Das vom Megaphon verstärkte Räuspern klang wie ein Motor, der nicht
anspringen wollte. Einige lachten.
Der Bürgermeister war der Situation nicht gewachsen. Er hatte keine vorbereitete
Rede. Er wußte nicht, was er den Menschen sagen sollte.
"Ich begrüße Sie alle ... hier auf dem Marktplatz ..."
Pfiffe und Spottworte trafen ihn.
Rudolf Mertin rief zu ihm hoch: "Sag: Wer gut arbeitet, soll auch gut
essen!" In seiner Bedrängnis wiederholte es der Bürgermeister.
Beifall schlug ihm entgegen.
"Sag: Auch Genossen machen Fehler! Du mußt sagen: Ich setze mich
dafür ein, daß die Normen wieder gesenkt werden!" brüllte
Rudolf Mertin.
Das wiederholte der Bürgermeister nicht. Er hatte die Fassung wiedergewonnen
und schrie:
"Laßt euch nicht von Agenten westlicher Geheimdienste ... "
Mertin entriß ihm das Megaphon.
Eva Schmiedinger hatte Angst, von der Menge überrannt zu werden. Sie
war froh, daß niemand sie hier kannte.
Warum die Volkspolizei nicht eingriff, fragte sie sich. Warum tun die sowjetischen
Genossen nichts?
Sie suchte Willi Meerbusch. Der schob mit Klaus Uhland das Boot an der Kirche
vorbei, sie hievten es die Treppen hinunter und schoben es zur Holzbrücke
über die Unstrut.
Dann holten sie das zweite Boot vom Pförtner der Dreysemühle. Lucie,
Elfie und Ernst warteten an der Stelle,
wo die Boote zu Wasser gelassen werden sollten. Als sie die Holzbrücke
erreicht hatten, hörten sie vom Marktplatz das Deutschlandlied über
einen Lautsprecher.
Viele sangen laut mit.
Eva Schmiedinger schlich sich zu der Stelle, wo das Wasser unter den Mühlrädern
der Dreysemühle hervorschoß. Von hier aus beobachtete sie,
wie die Jungen und Klaus Uhland das Paddelboot zu Wasser ließen. Sie
sah, wie Lucie, Elfie und Ernst in das eine Boot und Willi und Klaus in das
andere stiegen.
Bald erfaßte die Strömung die beiden Boote und trieb sie in die
Nähe der Mühle. Ernst ruderte in seinem Boot derart heftig, daß
es sich zweimal um sich selbst drehte
und gefährlich nahe an die Mühlräder herankam. Nur mit Klaus
Uhlands Hilfe gelang es ihm, aus der Strömung in die Flußrichtung
zu gelangen.
Lange Fäden von Flußgras färbten die Unstrut grün. Am
modrigen Ufer wucherten Eschen und Linden, deren untere Zweige die Wasseroberfläche
berührten.
Im Gestrüpp der niedrigen Büsche hatten sich abgebrochene Äste
und Zweige, welke Blätter und von der Wasserkraft
mitgeschleifte Steine verfangen. Sonnenflecken blendeten. Bald waren die beiden
Boote hinter der Flußbiegung verschwunden.
Eva Schmiedinger konnte ihnen durch den Stadtpark nicht schnell genug folgen.
Sie lief zurück auf den Markt, wo sich die Demonstration auflöste.
Der Bürgermeister war nicht zu sehen. Sie folgte den Männern, die
in die Börse gingen.
Ihre präzisen Protokolle waren die Grundlage dafür, daß in
der nächsten Woche etliche Bauern in einem Schnellverfahren wegen Sabotage,
manche sogar als Wirtschaftsverbrecher,
als imperialistische Agenten verurteilt wurden. Deren Besitz fiel an den Staat,
er wurde konfisziert.
Klaus Uhland wurde am Nachmittag des zwanzigsten Juni in seinem Garten verhaftet.
Er hatte kaum Zeit, sich von Lucie und den Kindern zu verabschieden.
Dem ehemaligen Parteisekretär der Rheinmetall, Schneider, gelang nach
seiner Befreiung aus einer Zelle des Volkspolizeikreisamtes
die Flucht nach Westdeutschland. Rudolf Mertin wurde am ersten Juli, am Tage
nach Ulbrichts Geburtstag nach Sibirien verschleppt.
Er starb im Winter einundsechzig in einem Gulag. An seine Frau und die Kinder
zu Hause hatte er viele Briefe geschrieben, die abzuschicken bei Todesstrafe
verboten war.
Die Briefe fand ein Leidensgenosse, als er die wenigen Habseligkeiten des
Toten untersuchte. Als dieser dann acht Jahre später entlassen wurde,
nahm er die Briefe mit in die DDR.
Dort schickte er sie nach Sömmerda in die Schillerstraße.
Clara Mertin las in den ersten Jahren Rudolfs Briefe täglich, später
nur noch an den Hochzeitstagen.
Anfang März neunzehnhundertvierundneunzig erhielt Clara Mertin Post von
einem russischen Offizier, der Rudolf Mertins Akte bearbeitet hatte.
Die Rentnerin öffnete das Kuvert mit einem spitzen Küchenmesser.
Ihr Körper bebte vor Aufregung.
Dann stieß sie einen Schrei aus und mußte sich setzen. Der Brief
enthielt die offizielle Rehabilitation ihres Mannes.
In einem persönlichen Brief entschuldigte sich der Offizier für
das, was Menschen aus seinem Volk Rudolf Mertin angetan hatten.